Mark Zakharovich Shagal ist der ursprüngliche Name des als „Marc Chagall“ die Kunst des 20. Jahrhunderts bestimmenden Künstlers. Kaum einer, von dem mehr Poster und Ansichtskarten weltweit vertrieben werden oder zu dessen Werken jährlich zahlreiche Exkursionen unternommen werden.
Wer war dieser Chagall und kann man ihn tatsächlich als heiterern Buntmaler sehen oder steckt mehr hinter dem jüdischen Künstler, der viele Bewegungen der Moderne gesehen hat, sich inspirieren ließ jedoch nie für eine konkrete Kunstrichtung einsortierbar war?
Chagall stammte aus einer armen, traditionsbewussten, jüdischen Familie. Der Großvater väterlicherseits war Religionslehrer, der Großvater mütterlicherseits Fleischer.
„Mein Vater hatte blaue Augen, aber seine Hände waren voller Schwielen. Er arbeitete, er betete, er schwieg. Wie er, war auch ich schweigsam. Was sollte aus mir werden? Sollte ich so mein ganzes Leben lang bleiben, vor einer Wand sitzend oder sollte ich ebenfalls Tonnen schleppen? Ich betrachtete meine Hände. Ich hatte zu zarte Hände...
Ich musste einen besonderen Beruf finden, eine Beschäftigung, die mich nicht zwingen würde, mich vom Himmel und den Sternen abzuwenden, und die mir erlauben würde, meinen Sinn des Lebens zu finden. Ja, genau das suchte ich. In meiner Heimat jedoch hatte niemals jemand vor mir die Worte ‚Kunst, Künstler’ ausgesprochen. ‚Was ist das, ein Künstler?’ fragte ich.“
Die frühen Jahre in Russland
1906 wird Chagall Schüler im Atelier des Malers Jehuda Pen. Im folgenden Jahr geht er mit seinem Freund Mekler nach Sankt Petersburg und besucht die Schule der „Kaiserlichen Gesellschaft zur Förderung der Künste“. 1908 wechselt er in die Swansewa-Schule, die von Léon Bakst geleitet wird. Dieser hat zahlreiche Kontakte nach Paris zu Picasso und anderen Künstlern der Avantgarde. Chagall bleibt bis 1910 an der Schule. Während dieser Zeit lernt er Bella, die Tochter eines Juweliers auf einem seiner vielen Besuche in Witebsk kennen, die er 1915 heiraten wird.
Die Pariser Jahre von 1910 – 1914
Die Werke zwischen 1910 und 1914 sind von der Kunstgeschichte als „Russische Phase“ betitelt worden – dennoch sind alle ausnahmslos in Paris gemalt. Geprägt ist diese Kunst von einer nie da gewesenen Fabulierlust, die Chagall auch den Titel „Der Erzähler“ eingebracht hat. Zunächst variiert er die Themen und Motive seiner frühen Jahre und kombinierte das ganze mit Pariser Stadtansichten. Die erste Kunstrichtung, die den jungen Maler nachhaltig beeinflusste war der Fauvismus, den er durch Vermittlung seines Landsmannes und Freundes Chaim Soutaine kennen lernen durfte. Dennoch war natürlich tout Paris fast autoritär in der Hand der Kubisten und Chagall nahm auch an den künstlerisch-literarischen Zirkeln beispielsweise beim Dichter und Verleger Canudo teil. Chagall empfand die Diskurse der Kubisten jedoch als zu intellektuell. Einzig der Orphist Robert Delaunay schien mit ihm auf derselben Wellenlänge zu schwimmen.
Dennoch kann man die Phase des ersten Paris-Aufenthaltes als ein wahres Abenteuer der Begegnung mit der Avantgarde werten. Der junge Maler aus den ärmlichen Verhältnissen taucht ein in die Zwischenwelt der Bohème und wird von ihr inspiriert. Ein Mäzen hat Chagall die Reise nach Paris finanziert. Er bezieht 1911 das Atelier in La Ruche (Bienenkorb) wo auch Léger, Modigliani und Soutine wohnen. Er pflegt enge Kontakte zu Apollinaire, Léger und Delaunay.
Hier schreibt Chagall seinen Stil fest indem er die Motive so auf die Leinwand bringt, wie es ihm die verklärte Erinnerung eingab: irrational und bizarr, mit einer Darstellung der Realität auf ihren Orientierungsachsen (oben und unten, rechts und links, nah und fern), die der klassischen Weltsicht völlig zuwider läuft. Das Gemälde hat keine Handlung, ist ohne Geschichte. In einer ungewöhnlichen Simultaneität von Motiven und Formen gibt es erste Ansätze zur Überwindung der kubistischen Geometrisierung. Die Menschen sind größer als die Gebäude, die russischen Holzhäuser stehen auf dem Kopf, in den Leibern der trächtigen Stuten sieht man die sanft schlummernden Embryonen, Kühe schweben wie selbstverständlich durch die Lüfte und Geiger spielen auf Dächern. Trotzdem entbehren diese exzentrischen Bilder nicht einer gewissen Logik. Man sollte nur wieder einmal die russischen Märchen lesen und man würde erkennen, dass es sich um die Logik des Märchens handelt. Und man sollte sich wieder ins Gedächtnis rufen, dass ihnen gerade zu jener Zeit, als man die Volkskunst und Mythologie neu entdeckte, von der modernen Gesellschaft eine eigene und unabhängige gedanklichen Struktur zugestanden wurde. Und vor allem Russland tat sich damals mit neuen Erkenntnissen auf dem Gebiet des Strukturalismus und der Anthropologie hervor.
Der Geiger, 1912/13
Dieses Gemälde ist eine der letzten Arbeiten der Pariser Zeit und zeigt eine äußerst populäre Figur im Schaffen Chagalls, die in vielen Werke als Erinnerung an seine jüdischen Wurzeln platziert wurde.Traditionell führt der Geiger die jüdischen Hochzeitsgesellschaften an. Natürlich ist er eine Figur, die auf die chassidische Einstellung verweist und letztendlich auch eine autobiographische Notiz ist – als Kind wollte Chagall einmal ein berühmter Konzertgeiger werden.
Der Dichter Guillaume Appolinaire bezeichnete die Kunst Chagalls voller Begeisterung als „surnaturel“ und nimmt hier schon die Entstehung des Surrealismus voraus. Allerdings stand Chagall später der Gruppe der Surrealisten durchaus skeptisch gegenüber. Er fand sich mit seiner Eigenart dort überhaupt nicht wieder. Wiewohl auch er sehr eng mit den Literaten – vor allem mit Blaise Cendrars, dem wichtigsten Weggefährten der Pariser Jahre, von dem auch viele Bildtitel stammen – zusammenarbeitete.
1912 nimmt er am Salon des Independants teil. Durch Apollinaire lernt er Herwarth Walden kennen, der ihm 1914 eine Einzelausstellung in seiner Berliner Galerie widmet. Er hatte das Gefühl, zum zweiten Mal seine Heimat zu verlassen, obwohl er doch hier den internationalen Durchbruch erhoffte. In seinem irritierenden Selbstbildnis sieht man durch das Atelierfenster auf Paris und den Eiffelturm – auf der Staffelei steht jedoch eine Ansicht von Witebsk. „Während ich an dieser einzigartigen technischen Revolution der französischen Kunst teilnahm, kehre ich in Gedanken, tief in meiner Seele, gewissermaßen in meine Heimat zurück.“Das Selbstbildnis symbolisiert seine russische und die jüdische Seele.
Krieg und Revolution in Russland – die Jahre 1914-1923
Während der Kriegszeit ist Chagall in St. Petersburg stationiert (eine recht komfortable Beschäftigung in einer Schreibstube) und hier hat er endlich die Gelegenheit, mit der Russischen Avantgarde Kontakt aufzunehmen. In seiner Pariser Zeit war er zu sehr mit sich selbst beschäftigt. 1917/18 wird Chagall zum Kommissar der bildenden Künste für das Gouvernement Witebsk ernannt, wo er eine Kunstschule gründet, an der auch El Lissitzky und Kasimir Malewitsch unterrichten. Chagall ist für das Organisieren von Festlichkeiten zuständig. In Paris hatte er Anatol Lunatscharski als Freund kennen gelernt und profitierte nun von seinen guten Beziehungen zum neuen Kulturminister. Lange währte die Harmonie jedoch nicht.
Nach einem Grundsatzstreit mit Malewitsch verlässt Chagall 1919 die Akademie. In Moskau entwirft Chagall Wandbilder und Dekorationen für das Jüdische Theater. Er nimmt an der ersten offiziellen Ausstellung der Revolutionskunst in Petrograd teil und die Regierung kauft tatsächlich 10 Gemälde von Chagall. 1921 arbeitet er als Zeichenlehrer für Kriegswaisen bei Moskau.
1922 verlässt er Russland endgültig und reist zunächst nach Paris, wo er hofft, die Erlöse von insgesamt 150 verkauften Gemälden von Herwarth Walden aus der Vorkriegszeit zu erhalten. Da war aber bereits die Inflation soweit vorangeschritten, dass kaum noch von Erlös zu sprechen war. Chagall hatte viel Mühe, einige Gemälde doch noch wieder zurück zu erhalten.
Es entsteht auf Anregung Paul Cassirers die Radierfolge „Mein Leben“ als Illustration für seine Autobiographie. Chagall ist begeistert über die Möglichkeiten der Druckgraphik und wird in den nächsten Jahren diese Gattung mit großem Engagement weiterentwickeln.
Frankreich und Amerika – die Jahre 1923 – 1948
Die Rückkehr nach Frankreich bedeutete für Chagall auch die Erfüllung seiner Hoffnungen. Endlich sollte er dort für lange Zeit Frieden, Harmonie und Wohlstand finden. Seine Kunst beginnt sich zu verändern. Die Bilder zeigen jetzt Szenen aus der Natur, Blumen und typische Mittelmeerlandschaften. Die Werke, die in dieser Periode entstanden, waren am stärksten vom Klassizismus geprägt. Besonderes Augenmerk richtete der Künstler zu dieser Zeit auch auf die Farbe und ihre Ausdrucksmöglichkeiten. Dennoch sind auch die Entwicklungslinien dieser Phase geprägt von dramatischen Ereignissen, die den Maler beschäftigen und die Kritik, er male immer – auch angesichts der politischen Entwicklungen – zu harmonisch und harmlos ist ihm bestimmt zu Unrecht gemacht worden.
Der Engelssturz, 1923 – 1933 – 1947
Über zwei Jahrzehnte hat Chagall an diesem entscheidenden Bild gemalt, das sowohl die glückliche Phase und die Umbrüche in seinem Stil offenbart als auch die Dramatik des Krieges nicht verschweigt.Daneben thematisiert es auch ein zentrales Bildmotiv bei Chagall, der oft den Beinamen „Der Maler mit den Engelsflügeln“ erhielt. Es finden sich auf diesem außergewöhnlichen Bild all die von Schmerz und Hoffnung diktierten Motive wieder: der gekreuzigte Märtyrer, der fliehende Jude mit der Thora, der vor Schmerz brüllende Ochse, aber auch die brennende Kerze vor der Kulisse des nächtlichen Witebsk, die kleine Madonna, die über der Stadt schwebt, und die Sonne, die am nächtlichen Himmel die Finsternis zu vertreiben versucht. Als er 1923 mit dem Gemälde begann, sollte sicherlich auf die Enttäuschungen nach der anfänglichen Begeisterung für die Revolution angespielt werden. Der Engel wandelt sich aber im Laufe der Jahre und nun wird er 1947 schließlich als eine Art prächtiger Feuervogel interpretiert.
Gleich zu Beginn seiner Ankunft in Frankreich (er lässt sich zunächst in Paris nieder) gibt der Verleger Ambroise Vollard mehrere Aufträge an Chagall: Illustrationen zu Gogols „Tote Seelen“ und La Fontaines „Fabeln“. Beide Projekte werden jedoch erst nach dem Krieg vollendet (Tote Seelen 1948 und Fabeln 1952). 1926/27 hat Chagall eine Einzelausstellung in New York.
1930 ergeht dann der wichtige Auftrag für die Bibel-Illustration von Vollard, den Chagall auch erst nach dem Kriege zuende führen wird. 1931 erscheint seine Autobiographie und Chagall unternimmt anlässlich der Museumseröffnung in Tel Aviv eine Reise durch die biblischen Landschaften Palästina, Syrien und Ägypten. Das Jahr 1932 steht ganz im Banne des großen Rembrandt, den er bei einer Reise durch die Niederländen näher studieren kann.
Auch im Jahre 1934 reist Chagall: nach Spanien, wo er El Greco bewundert und anschließend nach Wilna und Warschau, wo er die Bedrohung der Juden zu spüren beginnt.
1937 wird Chagall französischer Staatsbürger. Mehrere seiner Bilder werden auf der Münchener Ausstellung „Entartete Kunst“ gezeigt. Bei Kriegsausbruch zieht Chagall mit all seinen Bildern an die Loire und später in die unbesetzte Provence (Gordes). Nach Inkrafttreten der Rassengesetze musste Chagall emigrieren. Auf Einladung des Museum of Modern Art, New York erhielt er die Möglichkeit dazu und im Juni 1941 kam er mit seiner Frau Bella genau dann in Amerika an, als die Nazis in Paris einmaschierten.
Innerhalb weniger Monate gelang es ihm, seine durch die dramatischen Ereignisse unterbrochene Arbeit wieder aufzunehmen. Bald schon stellten sich die ersten Erfolge ein.
„In Amerika habe ich gelebt und gearbeitet in einer Zeit der weltweiten Tragödie, die alle Menschen getroffen hatte. Während die Jahre dahingingen, bin ich nicht jünger geworden. Aber ich konnte in der Atmosphäre der Gastfreundschaft Kraft schöpfen, ohne dass ich die Wurzeln meiner Kunst verleugnen musste.“
1942 entwirft er für die New Yorker Oper die Ausstattung von Massines Tschaikowski Ballett Aleko – er arbeitet daran in Mexiko. 1944 stirbt Bella an einer Virusinfektion. Chagall ist monatelang unfähig zur Arbeit. Als er sich 1945 wieder langsam erholt entsteht die Ausstattung für Strawinskys Feuervogel. 1946 zeigt das Museum of Modern Art eine Retrospektive Chagalls. Er reist nach Paris und arbeitet an der Ausstattung des Musée National d’Art Moderne. Danach reist er nach Amsterdam und London.
Weiße Kreuzigung, 1938
Dieses Gemälde hat Marc Chagall 14 Tage nach dem November-Pogrom geschaffen und damit ein erschütterndes Zeitdokument hinterlassen, dass allerdings auch eine zentrale Stellung innerhalb des Oeuvres einnimmt. Erstaunen mag die Tatsache, dass hier ein jüdischer Künstler sich einer christlichen Thematik annimmt. Dies ist jedoch für Marc Chagall nie ein Widerspruch gewesen. Er steht für die künstlerische Freiheit, mit der man auch sozusagen religionsübergreifende Themen behandeln kann. Was sehen wir. Wir sehen im Zentrum der Darstellung die zentrale Gestalt des Gekreuzigten vor einer sehr turbulenten Hintergrundszenerie und haben durchaus Mühen bei der Identifizierung der einzelnen Bildelemente. Hier greift die psychische Dimension der Darstellung, in der Chagalls eigene Biographie, seine Verbundenheit mit der jüdischen Tradition und die Zeitgeschichte ineinander verwoben sind. Interessant ist dieses Gemälde durchaus auch aus rezeptionsgeschichtlicher Sicht, denn man hat Chagall aus den Reihen der Mitjuden heftigst gescholten für die Christusfigur.
„Sie haben nie verstanden, wer dieser Jesus, einer unserer liebevollsten Rabbiner, der stets für die Bedrängten eintrat, wirklich war. Sie haben ihn mit lauter Herrschaftsprädikaten bedacht. Für mich ist er das Urbild des jüdischen Märtyrers zu allen Zeiten.“
Chagall hat in einigen Aspekten in die christliche Ikonographie eingegriffen – der Gottessohn erhält bei ihm ein Tuch um den Kopf anstatt der peinigenden Dornenkrone und anstatt des Lendentuches hat er ein jüdisches Gebetstuch umgebunden. Außerdem hat bei ihm das Kreuz erstaunlicherweise keinen Hochbalken – hier folgt er der Vorstellung vom missbrauchten Kreuz als Schwert in den Kreuzzügen und überträgt seine Gedanken zur pazifistischen Haltung (auch während der Bedrohung der Juden durch die Nationalsozialisten) in die Gestaltung. Die Inschrift I.N.R.I. hat Chagall zu einer weiteren Entwicklung zeitgeschichtlicher Aspekte genutzt – wie er fast alles Details des Bildes intensiv in diesem Zusammenhang gedeutet hat: einmal steht dort die übliche Inschrift in blutroten ‚gotischen’ Buchstaben, die an die völkischen Hetzblätter erinnern soll – zum anderen finden wir dieselbe Inschrift als aramäische Buchstaben. Rund um den Gekreuzigten ist die Welt in Aufruhr geraten.
Der gehäutete Ochse, 1947
Die riesenhafte Figur des roten, gehäuteten Tieres vor dem nächtlichen Himmel über einer schneebedeckten Stadt hat allegorischen Charakter. Er steht für die Schrecken und das Blut, das als Opfer gebracht werden muss, um in einer Welt, die gerade einen Krieg überstanden hat, wieder ein Klima des Friedens herzustellen. Der Kontrast zwischen dem riesigen, roten Ochsen und der verschlafenen, verschneiten Ortschaft im Hindergrund verleiht dem Bild eine besondere Dramatik. Eine derart verfremdete Darstellung kann nur der Phantasie Chagalls entspringen: An die Stelle des gekreuzigten Christus setzte er einen überdimensional großen, blutüberströmten Ochsen. Das Motiv des geschlachteten Tieres ist mit Erinnerungen an seine Kindheit verbunden: sein Großvater war Fleischer und mit dem Onkel Neuch, einem Viehhändler hat der kleine Marc oft die Märkte besucht. Natürlich spielt hier auch die Reminiszenz an den berühmten Rembrandt, der ähnliche Motive im 17. Jahrhundert malte, eine nicht unbedeutende Rolle. Da die Tierwelt für ihn aber eigentlich immer auch eine natürliche war, beschloss er mit dem geschlachteten Ochsen die Serie von Martyrienbildern, die unter dem Eindruck des 2. Weltkrieges standen. Der blutende Ochse symbolisiert das Martyrium von Witebsk, den Leidensweg, den der Künstler bei der Erinnerung an seine Kindheit und Jugend durchlief. Er steht aber auch für die Verletzung der künstlerischen und geistigen Werte und für das Glück und die Harmonie, die im Blut ertränkt wurden. Die brennende Kerze am dunklen Himmel über der Stadt ist ein Symbol für familiäre Geborgenheit und schöpferische Wachheit, das wir bei Chagall immer wieder finden. Die kleine verborgene Kerze mit der winzigen roten Flamme vermag es nicht, die Finsternis dieser Schreckensnacht zu erhellen. Am Himmel sieht man den Großvater schweben. Er trägt die kleine Kappe der Juden und hat ein Messer in der Hand. Voller Abscheu blickt der alte Man auf das tote Tier. Und genau darin liegt Chagalls Botschaft: der Menschheit soll die Abscheulichkeit ihrer Verbrechen vor Augen geführt werden.
Das Spätwerk – die Jahre 1948 – 1985
Chagalls letzte Schaffensperiode, die fast vierzig Jahre andauerte und erst 1985 mit seinem Tod endete, begann mit der Rückkehr nach Europa. Nachdem Chagall sich 1948 endgültig dazu entschlossen hat, erhält er im selben Jahr den Graphikpreis der Biennale in Venedig. 1949 zieht er nach kurzem Aufenthalt in Paris nach Saint-Jean-Cap-Ferrat an der Côte d’Azur und später nach Vence und 1966 ins benachbarte Saint-Paul-de-Vence. 1950 entstehen erste Keramik-Arbeiten und ein Jahr später auch erste Skulpturen. 1952 heiratet er Walentina (Vava) Brodsky. Er lernt den Verleger Tériade kennen, der ihn mit den Lithographien zu „Daphnis und Chloé“ beauftragt und mit ihm die Bibel-Illustrationen herausbringen möchte (1957 erscheint die Tériade-Bibel). 1958 entstehen die Entwürfe für die Glasfenster der Kathedrale in Metz, die 1968 vollendet werden. 1959 das Wandbild für das Frankfurter Schauspielhaus, 1960 das Fenster für die Hadassah-Universitätsklinik, 1964 das Deckengemälde in der Pariser Oper.
Und wieder begegnen uns die gleichen Themen : der Zirkus, der Krieg, russische und französische Landschaften, die Kühe aus Witebsk und provenzalische Blumensträuße.
All diese Werke lassen sich in umfangreiche Zyklen einteilen und sind auf irgendeine Weise miteinander verflochten. Die Farbe spielte nach wie vor eine wichtige Rolle. Sie verselbständigte sich mehr und mehr, wurde eindringlicher und eigenwilliger.
Blauer Zirkus, 1950/51
„Für mich ist der Zirkus ein magisches Schauspiel, das kommt und vergeht wie eine Welt.“
Ausgelassenheit und Musik sind die Eigenschaften, die den Zirkus als Gegenmodell zum Schock der Moderne werden lassen.
„Die Veränderungen in der Gesellschaftsordnungen wie in der Kunst wären glaubwürdiger, wenn sie aus der Seele und dem Geist heraus wüchsen. Wenn die Menschen aufmerksamer die Worte der Propheten lesen würden, so fänden sie dort die Schlüssel zum Leben.“
Eine Neuentdeckung war auch die Glasmalerei, eine sehr alte Technik, der Chagall nach intensivem Studium der klassischen Meisterwerke in der Kathedrale von Chartre zu neuem Ansehen verhalf. Es war kein Zufall, dass diese Technik des materialisierten Lichts den Maler Chagall beschäftigte, der immer auch diesen Aspekt der Malerei bedacht hatte und umzuformen trachtete. Das Konzept für die im Zentrum Jerusalems gelegenen Synagoge wird sein größtes Glasfenster-Projekt sein und sich intensiv mit der Geschichte des Volkes Israel beschäftigen. Hier verschmolz er – wie in seinem Werk immer wieder – die Natur und die Religiosität.
„Für mich ist die Bibel eine zweite Natur.“
Hier folgt Chagall den Gesetzen des Talmud und vermeidet die Darstellung des Menschen. Seinen religiösen Vorstellungen gibt er Ausdruck in den Tieren, den Bäumen und Blumen.
In einem manifestierten sich für Chagall Natur und Religiosität in jedem Fall gleichermaßen, nämlich in der schöpferischen Arbeit, der er sich mit Hingabe und Leidenschaft widmete.
„Ich bin ein Mystiker. Ich gehe nicht in die Kirche oder die Synagoge. Ich bete, indem ich arbeite.“
Während der Arbeit an den Fenstern für die Synagoge der Jerusalemer Hadassah-Klinik, die ein Geschenk an das Gelobte Land sein sollten, hatte er nach eigener Aussage immerzu das Gefühl, Vater und Mutter verfolgten seine Arbeit mit und sähen ihm dabei über die Schulter. Ein Gefühl, das ihn sein ganzes Leben begeleitete und das, wie sollte es anders sein, seine Wurzeln in der inzwischen fernen Kindheit in Witebsk hatte.
Marc Chagall als jüdischer Künstler
Chagalls Vater ist der Sohn des Vorstehers einer der vielen Gebetshäuser in Witebsk. Seine geistige Heimat war also das Judentum, auch wenn er nie ein eifernder, dogmatischer Talmudist war. Sonst hätte er, dessen gesamtes Schaffen der Darstellung des Menschen (auch seiner selbst) gewidmet war, nach den strengen Gesetzen des Talmud, die solches verbieten, schwere Sünde auf sich geladen. Andererseits war er aber auch keineswegs des – in seiner Generation wie verbreiteten – weltoffenen, konfessionell ungebundenen jüdischen Intellektuellen, der sich aus Prinzip oder aufgrund familiärer Prägung assimiliert hätte. Obwohl ihn die Eltern auf ein russisches Gymnasium schickten – eine in der jüdischen Gemeinde von Witebsk für die damalige Zeit recht ungewöhnliche Entscheidung -, war sich der Künstler seiner jüdischen Herkunft stets durchaus bewusst und bekannte sich auch offen zu ihr. So verfasste er seine berühmten Memoiren zunächst auch in seiner Muttersprache Jiddisch. Darüber hinaus hätte er angesichts der Pogrome und Diskriminierungen im zaristischen Russland die eigene jüdische Abstammung nur schwerlich verdrängen können.
„Wäre ich kein Jude (mit allem, was dieses Wort für mich beinhaltet), ich wäre überhaupt kein Künstler oder aber ein ganz anderer Mensch. Das ist keineswegs etwas Neues. Was mich betrifft, so weiß ich ziemlich gut, zu welchen Leistungen dieses kleine Volk fähig ist. Leider bin ich bescheiden und kann nicht aufzählen, was es alles zu leisten vermag. Etwas Beschwörendes – das ist es, was dieses kleine Volk vollbracht hat! Als es wollte, hat es Christus und das Christentum hervorgebracht. Als es sich anstrengte, gebar es Marx und den Sozialismus. Ist es nicht denkbar, dass es der Welt auch eine Kunst, irgendeine Kunst gegeben hat? Schlagt mich tot, wenn das nicht stimmt.“
Sein Frühwerk wurzelt in persönlichen Erinnerungen, in denen sich alltägliche Reminiszenzen mit den Inhalten seiner jüdischen Erziehung verknüpfen. Er wuchs in der Tradition des Chassidismus auf, einer jüdischen Erweckungsbewegung, die in der Hälfte des 18. Jahrhunderts in den südpolnischen Provinzen aufkam und sich von dort aus in Galizien in Weißrussland und in Litauen verbreitete.
Marc Chagall – Der Maler der Bibel
„Seit meiner Jugend hat mich die Bibel gefesselt. Sie erschien mir immer und erscheint mir auch heute noch als die größte Quelle der Poesie aller Zeiten. Stets habe ich ihre Spiegelung im Leben und in der Kunst gesucht. Die Bibel ist der Widerhall der Natur, und dieses Geheimnis habe ich weiterzugeben versucht.“
„Dieses Buch ist Geschichte“, sagte Chagall, „und gleichzeitig auch ein Roman. An manchen Stellen ist es reine Poesie. Es ist eine Tragödie, aber oft auch sehr komisch“.
Marc Chagall – Die Bilderfindungen
„Wenn ich in einem Bild den Kopf einer Kuh abgeschnitten und verkehrt aufgesetzt habe oder manchmal das ganze Bild verkehr herum male, so habe ich es nicht getan, um Literatur zu machen. Ich will in mein Bild einen psychischen Schock hineinbringen, der immer motiviert ist aus bildhaften Gründen, mit anderen Worten: eine vierte Dimension.Ein Beispiel. Eine Straße. Matisse baut sie im Geiste Cézannes auf, Picasso in dem der Neger oder Ägypter. Ich gehe anders vor. Ich habe meine Straße. In diese Straße lege ich einen Leichnam. Der Leichnam bringt die Straße psychisch durcheinander. Ich setze einen Musiker auf ein Dach. Die Anwesenheit des Musikers wirkt auf die des Leichnams. Dann ein Mann, der die Straße kehrt. Das Bild des Straßenkehrers wirkt auf das des Musikers zurück. Ein Blumenstrauß, der herunterfällt, und so weiter. Auf diese Weise lasse ich das Psychische, die vierte Dimension, in das Bildhafte herein, und die beiden vermischen sich.“
„Ich verzichte auf jedes Dekor. Jedes Bildzeichen muss für mich psychisch durchgearbeitete sein.“ „Meine Bilder sind ‚constructions psychiques’. Ich versuche, Schichten seelischer Wirklichkeit auf die Leinwand hinüberzutragen und sie dort abzulegen.“
1966 erhält er den Auftrag für eine Mosaikwand und zwölf Wandfelder für das neue Parlament in Jerusalem. 1967 richtet man in Köln eine Chagall-Retrospektive aus. 1970 werden die Glasfenster im Zürcher Frauenmünster eingeweiht und 1972 beginnt Chagall – nunmehr 85jährig – mit der Arbeit an einem Mosaik für die First National Bank in Chicago. 1973 wird das „Musée National Message Biblique Marc Chagall“ eröffnet. 1974 werden die Fenster für die Kathedrale in Reims eingeweiht und Chagall reise nach langer Zeit wieder nach Russland. 1977/78 beginnt er mit den Entwürfen für die Glasfenster der Pfarrkirche St. Stephan in Mainz. 1985 richtet die Royal Academie of Arts in London eine große Retrospektive für den Künstler aus. Chagall stirbt am 28. März 1985 in Saint-Paul-de-Vence.
AN MARC CHAGALL
Esel oder Kuh Hahn oder Pferd
Bis hin zum Leib einer Geige
Singender Mann ein einziger Vogel
Tanzend behände mit seiner Frau
Gold des Grases Blei des Himmels
Getrennt durch blaue Flammen
Von der Frische des Taues
Das Blut es schillert das Herz es schlägt
Ein Paar der erste Widerschein
Und in einem Schneegewölbe
Zeichnet der volle Rebstock
Ein Gesicht mit Lippen aus Mondlicht
Das nachts nie schläft
Paul Eluard
Kommentare
11 Antworten zu „Marc Chagall – Leben und Werk“
mark chagall war ein schlechter künstler..ich kann auch i-etw hinkrikkeln
Nein war er nicht, nur ein Mensch, der einen niedrigen Intelligenzquotienten besitzt und keine Ahnung von Kunst hat, kann das sagen. Also, das nächste Mal, suchen Sie sich eine für Sie geeignete Seite!!!
Vielen Dank
Ich denke Marc Chagall ist ein Künstler der sich bei jedem seiner Bilder etwas gedachte hat und vorallem Themen der Gegenwart behandelt hat.Sicherlich hat er so seine Gefühle verarbeitet und dies zu deuten ist schon manchmal sehr kompliziert jedoch sollte man sich darauf einlassen und sich die Zeit nehmen denn es lohnt sich.Die Bilder sind wunderschön wenn man um ihre Bedeutung weiß.Also erst nachdenken bevor man wahllos urteilt Harald!
Ich finde Marc Chagall hat schöne bilder gemalt! Ich finde um ein bild schön zu finden braucht man zeit um sich überhaupt klar zu machen worum es denn hier überhaupt geht! Und genau das fällt mir bei ihm auf !
chagalls bilder sind wirklich sehr faszinierend.
allein schon die farben sind sehr bunt und glänzend, was mich wirklich sehr beeindruckt und ihn auch somit von vielen anderen künstlern unterscheiden lässt.
Ich meine, dass M.CHAGALL netten Bilder gemalthat!!!
Marc Chagall war ein einzigartiger und talentierter Künstler, der vielen verschiedenen Epochen seine Aufmerksamkeit schenkte. Er war der Meister der Träume. Ein „Poet der Kunst“. Daher stammt auch der Name Marc Chagall- ein träumender Maler. Großartiger Künstler und großartige Bilder.
Er war,ist und bleibt einer tollsten Künstler des 20. Jahrhunderts…
mein persönlicher Favorit, wenns um die grossen künstler des 20. Jahrhundert geht.
Chagall hat wohl nie eine gosse Epoche begründet, aber seit der ersten Pariser Zeit nahezu jede stark geprägt.
In seinen Bildern mischen sich verschiedenste Stile und Techniken, genial zusammengefügt zu unglaublich tiefsinnigen uns kraftvollen Werken
Er war Meister des Expressionismus, Kubismus, und Surrealismus zugleich
(obwohl er sich ungern zu den Surrealisten zählen liess)
Mark chagall war ein großer künstler ich liebe sein bilder die haben alle eine geschichte dahinter ,,sie sind etwas besonderes .. kuck euch die bilder genauer an dann findet ihr vielleicht denn sinn =)
[…] zeigen einen anderen Ansatz, der inspirieren kann. Tolle Artikel finden sich auf Kulturtussi. Den Chagall-Beitrag schätze ich sehr. Davon hat mein Beitrag zum Tweetup der Kulturkonsorten „outofblue“ […]
[…] googeln und in diesen Fällen funktioniert mein Blog auch als reine Publikation. Das ist zum Beispiel so ein Beitrag, der seit 2006 immer wieder aufgerufen wird. Muss ich mir auch mal […]
[…] langen Atem. Immer wieder führen Google-Treffer auf mein Blog. (Ich bin überrascht, dass es ein Chagall-Artikel ist, der die meisten Besucher auf mein Blog lotst. Im letzten Jahr waren es über 5000! Wen es […]