Die meisten von euch wissen ja, dass ich ein großer Fan des Jugendstils bin und jede Gelegenheit nutze, auf diesem Gebiet neue Entdeckungen zu machen. Natürlich war ich schon öfter in Brüssel und dort auf den Spuren beispielsweise von Victor Horta unterwegs. Auch Henry van de Velde war hier im Blog schon Thema. Umso begeisterter war ich, als ich mich auf die #KultourWallonie vorbereitete und mir klar wurde, dass ich bei diesem Kurztrip vor allem in den beiden Städten Charleroi und Namur auf ganz besondere Beispiele der belgischen Jugendstil-Architektur stoßen würde.
Gemeinsam mit Ute und Wibke bin ich von Belgien-Tourismus Wallonie zu einer Entdeckung der Wallonie eingeladen worden. Dafür hatten wir uns überlegt, von unterschiedlichen Startpunkten aus sternförmig zu einem grandiosen Finale in Namur zusammenzukommen. Bei Ute und Wibke könnt ihr deren Eindrücke und Erlebnisse ihrer Touren lesen (und alles eignet sich auch wunderbar zum nachreisen!!). Ich nehme euch hier als erstes mit zu einigen Jugendstil-Highlights in Charleroi und Namur.
Die Architektur des Jugendstils ist ein Zeugnis der aufkommenden Modernität im Industriezeitalter und vor allem in Verbindung mit einem wirtschaftlichem Aufstieg in den Städten entstanden. Auch wenn Charleroi heute mehr unter dem Vorzeichen des Strukturwandels und dem Niedergang von Kohle und Stahl gesehen wird, sollte man eine Reise in die Zeit unternehmen, als die Stadt das Zentrum des wallonischen Industriewandels gewesen ist. Neben der Kohle- und Stahlindustrie wurde die Stadt vor allem für die Produktion von Flachglas berühmt. Ich war natürlich besonders gespannt, ob ich hier eine geniale Verwendung von Glas und Eisen in der Architektur zu sehen bekommen würde? Voller Vorfreude strebte ich vom Stadtzentrum aus in die Wohngebiete, die nach der Stadterweiterung um 1870 herum entstanden waren.
Es ging ganz ordentlich den Hügel herauf und ich ließ mich von Google-Maps durch die zum Teil durch Baumaßnahmen schwierig passierbaren Sträßchen leiten. (So in ein bis zwei Jahren dürfte Charleroi nochmal in neuem Glanz erstrahlen!) Mein Ziel war ein ganz spezielles Haus, das als DAS Jugendstil-Beispiel für Charleroi allerorten erwähnt wird. Aber schon auf dem Weg dorthin fiel mir die ein oder andere Jugendstil-Fassade auf, die hier zulande wohl groß gefeiert werden würde. In Charleroi aber eher mit einem gewissen Renovierungsstau daherkommt. Na gut, wer so viele Beispiele hat, verliert vielleicht den Überblick und kann sich nicht um jedes Einzelne kümmern.
Das Haus der Ärzte in Charleroi
1908 ließ ein gewisser Docteur Bastin sich in der Rue Léon Bernus ein Haus erbauen, das mit seiner besonderen Fassade nicht nur den guten und zeitgemäßen Geschmack des Mediziners demonstrierte, sondern auch seinen Beruf mit kleinen Anspielungen deutlich machte. Die Maison des médecins gilt als ein herausragendes Beispiel der Jugendstil-Architektur in Charleroi und steht seit 1993 unter Denkmalschutz. Asymmetrie, die kurvigen Fenster- und Balkondetails, eine bestechende Mehrfarbigkeit und großartige Stuckreliefs – das Haus ist der Knaller. Nach längerem Hin und Her (auf der Denkmaltafel vor dem Haus wird noch Alfred Machelidon als Architekt erwähnt) einigte man sich darauf, dass es wohl dem Architekturen François Guiannotte zuzuschreiben sei, der vor allem ein spannendes Spätwerk geschaffen hat und als Vorbereiter von Größen wie Horta und Co. gelten kann.
Ein bisschen schmerzt auch hier der Anblick von kaputten Glasscheiben, aber man hat auch das Gefühl der Authentizität und irgendwie ist es toll, wenn in so einem Haus ganz normale Menschen leben. Und man es nicht als Firmensitz oder sonst etwas Etabliertes herausgeputzt hat. Der kleine Erker und die historistische Traufkante des Hauses zeigen Guiannottes Ursprung und das ganze Haus scheint mir irgendwie „belgischer Jugendstil in a Nutshell“ zuzurufen. Gilt dieser doch als perfektes Bindeglied zwischen dem angelsächsischen Arts-and-Crafts-Ursprung und dem eher eleganten Art Nouveau Frankreichs.
Als ich die Straße wieder herunterwandere, dem Zentrum um den Fluss Sambre zu, laufe ich an unzähligen Fenster- und Türen-Details vorbei und komme aus dem „Ah und Oh“ gar nicht mehr heraus. Charleroi gilt als die Stadt mit den meisten Bauten des Art Nouveau in der Wallonie. Das junge Königreich Belgien feierte hier seinen wirtschaftlichen Aufschwung zum Ende des 19. Jahrhunderts und es ist schön, heute noch darin zu schwelgen. Auch und gerade weil es natürlich auch ganz andere Ecken in der Stadt gibt. Darüber berichte ich aber noch einmal ausführlicher in einem eigenen Blogbeitrag. Jetzt erst noch einmal ein Feuerwerk des Jugendstils!
Art Déco und Art Nouveau in Namur
Eine knappe Autostunde von Brüssel entfernt, ist die Art Nouveau Architektur der wallonischen Hauptstadt Namur sehr geprägt von den stilistischen Einflüssen, die von dort kommen. Unter anderen der Sgraffito-Spezialist Cauchie hat in Namur viele Spuren hinterlassen, die ich bei meinem nächsten Besuch unbedingt finden muss. Prägend für den Jugendstil in der Stadt an der Maas war aber vor allem auch der Architekt Adolphe Ledoux. Und ich war extrem glücklich, dass ich auf der Rückfahrt noch das Haus der zwei Fenster anschauen konnte, das im Stadtteil Jambes liegt und wirklich extrem aufregend ist mit seinen tanzenden Fenstern.
In der Innenstadt erblickte ich auch so manch hübsche Fassade, die das Selbstbewusstsein des erstarkten Bürgertums um die Jahrhundertwende deutlich zeigt. Mir haben es aber auch vor allem die originalen Schaufenster-Fassaden angetan, die mit geschwungenen Glasfronten heute noch vollständig erhalten sind und den ganz besonderen urbanen Charme vergangener Epochen ausstrahlen. Damals wurde ja quasi das Window-Shopping erfunden und man flanierte mit begehrlichen Blicken an den Auslagen vorbei, für die möglichst viel Fläche vorgesehen war. (Bild 1 stammt noch aus Charleroi).
Ein ganz besonderes Highlight in Namur ist aber ein ganzes Quartier in der Altstadt, das mit wunderbar erhaltenen Art-Déco-Gebäuden fasziniert. Aus dem oft floralen und detailreichen Art Nouveau entwickelt sich zwischen den beiden Weltkriegen ein moderner Stil, der durch klare, fast nüchterne Formen eine gewisse Sachlichkeit ausstrahlt, die man in den zwanziger Jahren besonders schätzte. Es entstanden Appartement-Häuser für die modernen Stadtbewohner, die zum Teil auch eine gewisse Begeisterung für den motorisierten Anhang nicht verhehlen können. Der allgegenwärtige unverputzte Backstein trägt ebenfalls zum homogenen Eindruck des Gesamtensembles bei. Zwischen der Rue des Carmes und der Rue des Croisiers lässt sich der geometrisch-abstrakte Stil des Art Déco besonders schön nachvollziehen.
Wie schon erwähnt, ist natürlich Brüssel die Zentrale des belgischen Jugendstils. Aber auch in Lüttich oder in Mons (ich will unbedingt mal die Maison Léon Losseau aufsuchen) gibt es noch viele tolle Jugendstilbauten zu besichtigen. Es war damals eine bemerkenswerte Aufgeschlossenheit unter den aufstrebenden Industriellen, sich von mutigen Architekten ihre Villen in einem neuen Stil gestalten zu lassen. Mit diesen ersten Einblicken in eine besondere Reise durch die Wallonie beginne ich eine kleine Reihe. Im nächsten Blogbeitrag geht es um eine alte Abtei, mit der ich romantische Jugenderinnerungen verbinde und im dritten Beitrag erzähle ich euch von den Charleroi Adventures, mit denen ich auf eine aufregenden Tour in der Stadt unterwegs war. Bleibt also gerne dran.
Transparenz: Ich wurde von Belgien-Tourismus Wallonie zu der Reise in die Wallonie eingeladen und erhielt ein Honorar für die Blogbeiträge.
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