George Grosz „Der Liebeskranke“ – Das Kaffeehaus als symbolischer Raum


„Der Liebeskranke“. Dieses faszinierende Gemälde von George Grosz hatte mich begeistert, als ich es in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf erstmalig sah. Ich beschloss, meine Magisterarbeit um dieses Bild herum zu konzipieren. Ich näherte mich sozusagen über das Spezifische dem Allgemeinen und stellte hier typische Merkmale fest, die wiederum interessantes Phänomen ihrer Zeit zu sein schienen. Besonders der morbide Charme des Liebeskranken hat mich magisch angezogen.

Die Kaffeehausszenen im Expressionismus haben sich mehr oder weniger direkt aus der impressionistischen Ikonographie entwickelt. Eine entscheidende Veränderung hat jedoch die Intention der Bildausführung erfahren. Das Motiv des Kaffeehauses wurde wesentlich im Sinne subjektiver Erlebnisse gestaltet. Dabei trat die objektive Erscheinung zwangsläufig in den Hintergrund. Während die übrigen expressionistischen Kaffeehausszenen jedoch die impressionistischen Formen weitgehend übernahmen, gestaltete Grosz in dem Gemälde „Der Liebeskranke“ von 1916 eine über das Bisherige hinausgehende Ikonographie des Kaffeehausmotivs. Den Ausführungen zu diesem Bild sei zunächst eine Beschreibung des Kunsthistorikers Friedländer vorausgeschickt:

Dies ist das Ende – weh, das Ende dies.“ das Bild ist durchaus lyrisch gemalt, fast melodramatisch weich. Etwas daumierhaft Rundes, krank Anmutiges, wunderschön Müdes verhaucht. Was ist geschehen. Der junge Baron oder was sonst der mondäne Jüngling sein mag, trägt den Tod in Form eines Brownings am und im Herzen. Allein im weiten Lokal – nein, die Melancholie eines zusammengekrümmten Hundes hinter ihm, Knochen verschmähend; und zwei Tische hinter ihm ein regelrechtes Skelett. Bei untergehender Sonne blicken Gräberkreuze durch die Fenster. Der Tisch voll gifthaltiger Likörs. Eine Fischgräte grinst. Der linke Arm hängt schon tot über die Lehne, indessen die schmale rechte Hand den gebrechlichsten Spazierstock kaum hält. Morbidezza. Das Herz ist wie die Waffe deutlich durch den Rock hindurch zu sehen, und transparent ist die ganze linke Körperseite. Das Antlitz von jenseitiger Blässe. Aber, cher monsieur, bitte verzweifeln sie nicht! Verzweiflung, sagt ein großer Franzose, ist unser größter Irrtum. Was hilft es? Der Herr hat kein Gehör mehr für das Leben; hin, ganz hin. – Ruhe sanft!

In der Figur im Vordergrund hat Grosz sich selbst dargestellt. Er tritt hier in der Rolle auf, mit der er in Berliner Intellektuellenkreisen bekannt war. Wieland Herzfelde beschreibt eine Begegnung mit ihm:
Er saß allein an einem Tisch mit runder Marmorplatte. ich erkannte ihn sofort, obwohl er ganz anders aussah, als damals bei Meidner. Wie ein Plakat für die Zirkuspantomime „Der Tod als Verführer“ saß er da: kalkweiß gepudert, mit rot geschminkten Lippen, in schokoladenbraunem Anzug, zwischen den Knien einen schwarzen dünnen Stock (…).

Grosz gefiel sich als Exzentriker und zeigte eine Vorliebe für die Inszenierung seiner abendlichen Auftritte. Er trat auch eine zeitlang in einem Berliner Kabarett auf, wo er sang, tanzte und Satiren vortrug. Die meisten Abende verbrachte er damit, in den Kaffeehäusern zu sitzen, etwas abseits, um die Passanten anzustarren und sie über sein rätselhaftes Auftreten außer Fassung zu bringen. Bei der Gestaltung des Selbstporträts im „Liebeskranken“ hat Grosz auf seine verschiedenen Rollen zurückgegriffen; er verarbeitete hierin die in seinem „inneren Vorstellungsleben“ entstandenen Doppelgänger: „1. Grosz. 2. Graf Ehrenfried, der nonchalante Aristokrat mit gepflegten Fingernägeln, mit einem Wort, der aparte aristokratisch Individualist. 3. der Arzt Dr. William King Thomas – der mehr amerikanisch-praktisch materialistische Ausgleich in der Mutterfigur des Grosz.“

Die Darstellung des „Liebeskranken“ ist in erster Linie die Darstellung eines Typus, den Grosz selber verkörperte und den er zuvor schon in einer anderen Kaffeehausszene entwickelt hat. Im Vordergrund dieses Gemäldes „sitzt wieder so ein bekleidetes Skelett, Zigarette mit tödlich blasiertem Kiefer, Schädel von knochenmagerer Hand gestützt; sehr schick selbstverständlich; Armbanduhr, nonchalante Schlotterschenkel; lang hingestreckt; zu Ende, doch noch zäh, noch vorletzter Wille; dicht hinter ihm grässlicher Kopf eines Missgebildeten. Die untere Ecke des Blattes zeigt ein zynisches Lebejünglingsprofil.“ (Friedländer) Vergleicht man diese Szene mit dem „Liebeskranken“ so wird deutlich, dass Grosz das Motiv des Kaffeehauses in einer völlig neuen Auffassung präsentiert hat. Das Gemälde „Das Caféhaus“ stellt eine andere Kaffeehauswirklichkeit orientierte räumliche Situation dar, wie sie Grosz auch schon in den zahlreichen Zeichnungen zu diesem Thema vorgeführt hat. Er porträtiert auch hier sich selbst, jedoch nicht in der zentralen Figur sondern in dem „Lebejünglingsprofil“. Diese Tatsache bringt die Kaffeehausszene einer beobachteten Situation näher.

Das Bild „Der Liebeskranke“ erschließt sich jedoch auf einer ganz anderen Ebene. Grosz zeigt dort das Kaffeehaus nicht wie sonst als in sich geschlossenen Raum, sondern arrangiert Tische und Stühle auf einer Platzarchitektur, die sich im Hintergrund zu einer Gasse verengt. Bei dieser Gestaltung liegt die Erinnerung an Van Gghs „Caféterrasse“ nahe, insbesondere beim Anblick der verschiedenen Gestirne, die hier jedoch kaum um ihres optischen Scheins willen gemalt wurden. Am feuerroten Himmel erscheinen mehrerer Sonnen, Mond und Sterne gleichzeitig. Inwiefern Grosz hier mittelalterlichen Kreuzigungsdarstellungen reflektiert hat, in denen über dem Haupt Christi Sol und Luna erscheinen, kann im Einzelnen nicht geklärt werden. Immerhin ist diese Gestaltung als Ausdruck einer apokalyptischen Vision durchaus für den Betrachter zugänglich. Die gesamte Darstellung ist dich gefüllt mit den verschiedensten Vanitas-Symbolen. Das Giftszenarium auf dem runden Tisch im Vordergrund sowie die Pistole sind hierbei moderne Varianten. Das im Hintergrund entfliehende Skelett ist der Doppelgänger des „Liebeskranken“. Es findet – hier zeigt sich der Groszsche Sarkasmus – seine Entsprechung in der Fischgräte. Der Hund über den gekreuzten Knochen erinnert an einen Totenkopf. Mit bösem Blick und giftig-bläulichem Fell ist er in dieser Kaffeehausszene zu einer Hauptfigur geworden. Die Atmosphäre des Untergangs wird vervollständigt durch die brennenden Häuser im Hintergrund.
Mit dem Blick auf das Entstehungsdatum des Bildes wird die Aussage dieser Symbole eindeutig. 1916 befindet sich Europa mitten im ersten Weltkrieg. Grosz hatte sich wie viele seiner Künstlerkollegen, die den Kreig zunächst als Katalysator großer Umwälzungen begrüßt hatten, freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet. 1915 wird er als „dienstunbrauchbar“ entlassen, Anfang 1917 jedoch erneut einberufen. Dies löste bei ihm einen schweren Zusammenbruch aus, so dass er im Februar 1917 in eine Nervenanstalt eingeliefert wurde. In den Jahren vor dem Krieg hatten Grosz vor allem die „Muffigkeit“ und Doppelmoral der Wilhelminischen zeit zu seinen bissig ironischen Darstellungen angeregt. In dieser Zeit gestaltete er seine Kaffeehausszenen in erster Linie als Gesellschaftssatiren. Der Krieg hatte aus dem distanziert-überlegenen Beobachter jedoch einen zutiefst betroffenen Künstler gemacht. Unter dieser veränderten Einstellung entstand das Gemälde des „Liebeskranken“.

1915 schrieb Grosz an Robert Bell: „Ich bin grenzenlos einsam d.h. bin allein mit meinen Doppelgängern, fantomatischen Figuren, in denen ich ganz bestimmte Träume, Ideen, Neigungen usw. real werden lasse.“

In den Jahren 1917 und 1918 entstand das Gemälde „Widmung an Oskar Panizza“, das Grosz in Anlehnung an Pieter Breughel und Hieronymus Bosch schuf. Eine unübersehbare Flut von „Groszschen Typen“ stürzt die Straße herunter. Am linken Bildrand sieht man die Fassade eines Kaffeehauses, durch dessen Fenster man eine Szene erkennt, die einem „Tanz auf dem Vulkan“ gleichkommt. Die ebenfalls eine apokalyptische Atmosphäre verbreitende Darstellung wird von der Masse der verschiednen gesellschaftlichen Erscheinungen beherrscht. Das Bild des „Liebeskranken“ erweist sich im Gegensatz dazu als individuelle Standortbestimmung. In der eindringlichen Inszenierung des Kaffeehauses erscheint der Intellektuelle als der letzte Mensch, dem nur noch die Flucht in den Tod bleibt. Darin drückt sich die subjektive Weltsicht des Künstlers aus.

Die „durchaus lyrische“ Gestaltung des Bildes macht eine Verbindung zur zeitgenössischen Lyrik deutlich, in der das Kaffeehausmotiv ebenfalls im Sinne einer symbolischen Charakterisierung der gesellschaftlichen Situation aufgegriffen wird. Ein Beispiel hierfür gibt das Gedicht „Café der Leeren“, das Franz Werfel in Heft 7 der „Aktion“ von 1917 veröffentlichte. Es ist mit dem Untertitel „Der Hölle VI. Gesang“ als eine Vision des Infernos charakterisiert. Eine der Strophen lautet:

„An Tischen sitzend hab ich sie erschaut
mir fremd im Traum und Traums mir Tiefbekannte,
sie saßen da von lauem Dunst umbraut“

Im Sinne von Else Lasker-Schülers märchenhaften Phantasien und euphorischen Äußerungen Meidners hat George Grosz die Möglichkeiten des Kaffeehausmotivs über die reine Erscheinung hinaus genutzt. Als Ort, der im zentralen Bereich des gesellschaftlichen Lebens angesiedelt ist und in dem sich ein Großteil der kulturellen Vorgänge abspielt, werden an ihm zentrale Aussagen zum Zustand der Generation verdeutlicht. Im Fall des „Liebeskranken“ ist das Kaffeehaus Bühne für die Aufführung der persönlichen Betroffenheit des Künstlers. Die einzelnen Elemente der Kaffeehauswirklichkeit sind hierbei nur Requisiten der Inszenierung, die einen Bezug zur Realität herstellen.

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5 Antworten zu “George Grosz „Der Liebeskranke“ – Das Kaffeehaus als symbolischer Raum”

  1. guter Beitrag, Tussi. Das Bild ist wirklich faszinierend, würdest Du mir deine Magisterarbeit schicken? Würde gerne mehr darüber lesen.
    Gruss

  2. Hallo Arsene
    sämtliche Kapitel meiner Magister-Arbeit habe ich hier eingestellt. Großstadtkunst, Kaffeehaus usw. unter Texte zur Kunst.
    Gruß
    Anke

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