Wenn ihr beschreiben solltet, wie die übliche Art der Bewegung in einer Ausstellung ist, was würdet ihr sagen? Es ist doch diese, oder? Schlendern, Stehenbleiben, Nähergehen, Schlendern. Beim Stehenbleiben gerne die Arme vor der Brust verschränkt. Liege ich richtig? Manchmal gibt es in Ausstellungen Sitzsäcke, in die man sich hineinfläzen kann. Das finde ich großartig. Denn ich habe festgestellt: die Kennenlernphase bei der Kunstbetrachtung ist ungeheuer wichtig. Und damit meine ich nicht, dass jemand etwas dazu erzählt. Und dann sagt man: Ahaaaa, das ist aber interessant.
Einfach mal drei Minuten schauen. Auch und gerade wenn ein Kunstwerk auf den ersten Blick nicht zu einem spricht. Ich war letzte Woche mal wieder in der wunderbaren Fundaziun Nairs. Und habe mich hingesetzt. Meine Gedanken fingen nach einer Weile an, zu fließen.
Schön ist es geworden. Nach dem Umbau des alten Kurbades hier in Nairs. Als wir den Eingangsraum betreten, riecht es noch nach Renovierung. Winterkleidung aus und einen ersten Schwatz mit den Mitarbeitern halten! Es kommt die die Frage auf: Wo fangen wir mit dem Rundgang an? (Irgendwo habe ich mal gelesen, dass es die Besucher automatisch immer links herum zieht. Um Uhrzeigersinn also. Ist das so? Ich gehe manchmal bewusst andersrum!).
Wir erhalten eine kleine Führung durch die liebe Gisela Göttmann, die uns vom Umbau erzählt. Es geht in den Keller und in das Obergeschoss. Und über eine spannende Wendeltreppe auf den Dachboden.
Die Ausstellung „SPOT ON 1 – Vom Schatten ins Licht“ zeigt insgesamt 23 Künstler, die in den vergangenen Jahren viele Arbeiten in Bezug zu diesem besonderen Ort erstellt haben. Ich finde das Artist in Residence Prinzip, dass sie hier im Unterengadin verfolgen, fantastisch!
Natürlich ist es toll, wie sich das ehemalige Badehaus aus dem Beginn des 20. Jahrhundert heute in einem Topzustand präsentiert. Ich schäme mich fast ein bisschen, dass wir der Patina nachtrauern. Aber gleichzeitig sind wir auch fasziniert von den neuen Möglichkeiten der großartigen Räume. Im Dachboden bleibt ja vorerst ein bisschen der Geist des Alten erhalten. Großes Kompliment an alle, die das gestemmt haben.
Das Verfertigen der Gedanken
Für mein Sitz-Experiment suche ich mir dann den großen Eingangsraum aus. Ich habe mehrere Möglichkeiten. Zunächst wähle ich eine kleine versteckte Ecke vor der Eingangstüre. Der Stuhl dort sieht nicht besonders einladend aus. Aber ich nehme trotzdem Platz und schaue auf die Wand gegenüber. Eine überdimensionale Zeichnung wächst darauf. Pflanze, mit Sand gemalt? Auf jeden Fall ein spezielles Material. Wie hält das, denke ich? Ein wenig davon ist auf den Boden gerieselt. Baselitz, wieso muss ich jetzt gerade an Baselitz denken. Künstler mögen es nicht so gerne, wenn sie mit anderen verglichen werden, las ich letztens. Ist das wahr? Vielleicht freut sie manchmal ein Vergleich mit einem Klassiker. Aber natürlich wollen sie etwas Neues machen.
Aber Baselitz bleibt in mir im Kopf. Ja genau. Kopfüber. Die Pflanze hängt nach unten, wie zum Trocknen. (Später sehe ich, dass sie ein Pendant in der gegenüberliegenden Eingangsnische hat, welches aufrecht steht.) Mir liegt plötzlich der Geschmack von Brennnessel-Tee auf der Zunge. Der entwässert. Tut im Körper Gutes. Und dann habe ich ein Bild der Kurgäste vor Augen. Sie tranken zwar keinen Brennnessel-Tee, sondern das unglaublich tolle eisenhaltige Wasser aus den Urtiefen der Berge. Die Badekultur zum Beginn des 20. Jahrhunderts zieht wie ein kleiner Film an meinem inneren Auge vorbei. Damen mit Hüten. So groß wie Wagenräder!
„Brennnessel sind meist als Rudelpflanzen auf ehemals besiedelten Stellen zu finden. Sie gelten als Zeiger von stickstoffreichen Böden und stehen für eine vom Menschen stark überprägte Natur.“ Das lese ich später in den Erklärungen zur Kunst von Ursula Palla. Kraut Unkraut heißt die Installation. Ja, der Mensch hat an dieser Stelle schon sehr stark in die Natur eingegriffen. All die eleganten Badehäuser und Kurhotels in das Tal gesetzt. Die Quellen angezapft. Trinkhallen erbaut. Ich bleibe noch eine Weile sitzen und betrachte die Zeichnung, die mit Flusssand an die Wand gebracht wurde. Haptisch spannend. Das überträgt sich ins Gehirn. Und ich bleibe dabei: sie hat etwas von der rauen Handschrift, die ich auch mit Baselitz verbinden würde.
Positionswechsel
Wie nett. Mitten im Raum steht ein Tischchen mit zwei Stühlen. Darauf etwas Lesematerial. Ich finde, es gehören viel mehr solcher Sitzmöglichkeiten in Ausstellungen. Ein Tischchen könnten dazu dienen, sich Notizen zu machen. Oder gar Zeichnungen anzufertigen. Es fehlt mir nicht an Fantasie, welche Formen solche Denkinseln haben können. Oder ist das nur mein Wunsch und geht es nur mir so, dass ich vom Stehen schnell zu viel habe. Und vielleicht schneller an den Werken vorbei gehe, als ich es eigentlich wollte. Einfach, weil ich so ungern stehe.
Aber ihr seht selbst, dass man die Sitzgelegenheiten dann auch entsprechend positionieren muss. Damit die Kunstbetrachtung möglich ist. Man erfasst einen Raum ja völlig anders, wenn man sitzt. Die Proportionen verändern sich. Mir fällt hier erstmal die schöne Korrespondenz der Bögen der Gewölbe mit den Formen an der Tür auf.
Im Raum verteilt sind drei Kunstwerke, die auf den ersten Blick vielleicht keine Gemeinsamkeiten haben. Eine überdimensionale fast schwarze Tuschzeichnung von Heiko Blankenstein. Ringe aus Schwemmholz von Isabelle Krieg. Und die Video-Installation „tausend part 2“ von Ursula Palla. Von dort, wo ich sitze, sehe ich alle Werke. Nicht immer in voller Ansicht. Aber da ich vorher herumgegangen bin, kann ich fehlende Aspekte ergänzen. Einzeln fand ich die Arbeiten interessant.
Den einfachsten Zugang bekam ich spontan zu dem „Hügel“ aus Monitoren, auf denen emsige Ameisen einen 1000-Franken-Schein zerstückelten und abtransportierten. (Später erzählte mir das Begleitheft eine sehr berührende Geschichte dazu*). Die Kamera hat die Ameisen stark herangezoomt und man kann ihre Geschäftigkeit hautnah miterleben. Jetzt aus der sitzenden Position machte der Hügel natürlich nicht mehr so viel Sinn. Der ist ganz klar für die Draufsicht geplant. Aber ich blieb dennoch sitzen. Der Mann geht derweil ans Fenster und schaut auf den Inn.
Was wäre wenn …
… es eine Verbindung zwischen den Kunstwerken gäbe? Wenn die Ameisen plötzlich auf die Ringe auf Schwemmholz treffen würden. Die sind ihnen natürlich zu groß und die Künstlerin hat sie mit viel Gefühl zu perfekten Kreisen gebogen. Aber vielleicht würden die Ameisen eine Task Force bilden und die Ringe Stück für Stück wieder in ihre Einzelteile zerlegen. Dekonstruktion durch die Natur. Nicht Zerstörung. Dekonstruktion. Sauber. Zuverlässig. Leise.
Was wäre wenn die Tuschezeichnung von Heiko Blankenstein sich nicht auf den Riesenstern Eta Carinae bezöge. Sondern eine Metapher für das chaotische System der Ameisen wäre, das am Ende noch einem in die Natur eingeschriebenen Plan folgt. Je länger ich hier sitze, desto mehr finde ich Gefallen an dieser Geschichte. Und meine Assoziationen bewegen sich von einer Ecke des Raumes in die nächste.
Ich bin keine Ausnahme. Geschichten helfen, einen Zugang zur Kunst zu bekommen. Klar ist das dann sehr konstruiert. Und nimmt jeweils nur einen kleinen Aspekt der Kunstwerke auf. Ich finde darin aber immer etwas, das sich auch bei näherer Prüfung als Bestandteil der Kunst erweist. Jetzt müsste man mit dem Dialog ansetzen. Übereinstimmungen überprüfen und die Assoziationen an die Kunst anbinden. Mir geht es nicht darum, wilde Fantasiereisen zu unternehmen, bei denen die Kunst nur einen Schubser gegeben hat.
Ideal ist es, für solche Assoziationen einen Rahmen zu haben, der die Erkenntnisse aus den Assoziationen filtert. Ich weiß ja auch, dass der Kurator seine Geschichten hinter der Präsentation hat. Großartig, wenn man an den kuratorischen Konzepten teilhaben kann. Warum sind ausgerechnet diese Kunstwerke hier an dieser Stelle zusammengeführt? (Ja, manchmal sind das auch sehr banale Gründe. Aber oft steckt mehr dahinter.) Mich würde das sehr interessieren. Und obwohl ich vom Fach bin, erschließen sich mir bei weitem nicht immer die Beweggründe. Wie mag es da erst Laien gehen.
Dafür rege ich hier nochmal an: sich einfach hinsetzen im Museum (notfalls auf den Boden), sich Zeit nehmen für die Kunst und dann den Satz „Was wäre wenn …“ vervollständigen. Das macht Spaß! Und manchmal beschäftigt einen das eine ganze Weile. Vielleicht sogar über den Besuch hinaus.
* Nachtrag der Geschichte zu „tausend part 2“ (Auszug aus dem Begleitheft der Ausstellung.) „Die Videoinstallation (…) erzählt die Geschichte einer Frau in Shanghai, welche ihr Erspartes unter der Matratze versteckte und nach einer gewissen Zeit feststellen musste, dass davon nur noch Papierfetzen übrig waren: wahrscheinlich von Käfern und Ameisen zerfressen.“
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