Die Entwicklung der Kaffeehausszenen als Motiv leidenschaftlicher Zustände und aufgewühlter Genies beginnt bei den beiden Urvätern der Ausdruckskunst: Vincent van Gogh und Edvard Munch. Beide haben mit ihren Darstellungen die Kaffeehäuser zu einem Ort der ganz besonderen Art stilisiert.
Van Goghs „Nachtcafé“,. Munchs „Boheme“-Cafés und der Expressionismus
Die Ikonographie der Kaffeehausszenen war bis in die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts hinein von einer rein formalen Umsetzung des Motivs bestimmt. Die hierbei entwickelten Einzelaspekte blieben auch bei den nachimpressionistischen Kompositionen nicht ohne Bedeutung, doch gerieten sie weitgehend in den Hintergrund. Im Zusammenhang einer Kunst, die immer mehr die inhaltliche Aussagekraft, den Ausdruck der Bilder betont, erfährt auch das Kaffeehausmotiv eine andere Bewertung. Die Darstellungen konzentrieren sich nicht mehr auf das Nachvollziehen optischer Einzeleindrücke, sondern stellen das individuelle Erlebnis in den Vordergrund.
Fast wie ein Wendepunkt markierte eine Darstellung diese Entwicklung: das „Nachtcafé“, das Vincent Van Gogh während seines Aufenthaltes in Arles im September 1888 malte. Es handelt sich dabei um ein Gemälde, das auf den ersten Blick noch dem Impressionismus verpflichtet scheint. Van Gogh hat es im Zusammenhang seiner Beschäftigung mit besonderen Lichteffekten gemalt. Hier experimentierte er mit dem Widerschein des künstlichen Lichtes, während er kurze Zeit darauf in dem Gemälde „Caféterrasse am Abend“ den gestirnten Himmel als zentrales Bildmotiv gestaltete.
Um vor Ort den Eindruck des nächtlichen Kaffeehauses einzufangen, verbrachte Van Gogh drei Nächte im „Café L’Alcazar“ vor der Staffelei. Die Arbeit bei Nacht hat ihm „alles viel lebendiger und farbenprächtiger“ vor Augen geführt als das Malen bei Tage. Die Wirkung der Farben, insbesondere die spannungsreichen Komplementärkontraste, vermitteln eine ganz eigenartige Atmosphäre und fallen dem Betrachter als Erstes überdeutlich ins Auge. In seinen Briefen hat Van Gogh dieses als seine wichtigste Intention beschrieben:
„Ich habe versucht, mit Rot und Grün die schrecklichen menschlichen Leidenschaften auszudrücken. Der Raum ist blutrot und mattgelb, ein grünes Billard in der Mitte, vier zitronengelbe Lampen mit orangefarbenen und grünen Strahlenkreisen. Überall ist Kampf und Antithese: in den verschiedensten Grüns und Rots, in den kleinen Figuren der schlafenden Nachtbummler, in dem leeren trübseligen Raum, in Violett und Blau. Das Blutrot und das Gelbgrün des Billards kontrastieren mit dem zarten Louis-XV-Grün der Theke, auf der ein rosa Blumenstrauß steht. Die weiße Kleidung des Wirtes, der in einer Ecke des Backofens wacht, wird zitronengelb, blassgrün und leuchtend (…).“
Neben der expressiven Aussagekraft der Farbe setzt Van Gogh auch die perspektivische Gestaltung zur Steigerung des Ausdrucks ein. Die Darstellung wird beherrscht von einem extremen Tiefenzug, der vor allem durch die fliehenden Linien des Fußbodens erreicht wird, aber auch von der Komposition des Billardtisches mit dem ebenfalls auf den Fluchtpunkt gerichteten Queue. Obwohl der ganze Raum offenliegt, gelingt es nicht, einen distanzierten Überblick zu gewinnen; der Betrachter wird von einem Sog in das Bild hineingezogen. Als sei nicht genug Platz vorhanden, sind Tische und Stühle an den äußeren Rand gedrängt, nur das mächtige Billard steht zentral im Raum. In diesem ungleichen Verhältnis von leerem zu gefülltem Raum wird die Raumleere zu einem bildbestimmenden Element, dem die Gegenstände und Personen untergeordnet sind. Einzelne Tische scheinen gerade verlassen worden zu sein; auf ihnen stehen noch Gläser und Flaschen. An den anderen Plätzen erkennt man nur schemenhaft einige Gäste, die „die ganze Zeit schlaff und versumpft an den Tischen verbringen“ (Van Gogh); im äußersten Winkel ist ein Pärchen zu erkennen: eine Dirne, die nur „zufällig ihren Liebhaber dorthin“ gebracht hat. Die einzige Figur, die nicht an den Rand des Raumes gedrängt wird, ist der Wirt, der aufrecht neben dem Billardtisch steht und Blickkontakt zum Betrachter aufnimmt. Diese Figur bildet den Kontrast zu den an den Tischen eingenickten „Nachtschwärmern“. Aus den Briefen Van Goghs ist ersichtlich, dass er in dieser Kaffeehausszene eine Reihe von beobachteten Situationen verarbeitet hat. Obwohl dieses Bild vor dem Objekt entstand, ist es jedoch nichts weniger als die Verarbeitung objektiver Eindrücke. Van Gogh hat die Darstellung vielmehr im Sinne eines psychologisch deutbaren individuellen Erlebnisses gemalt:
„Ich habe versucht, den Gedanken auszudrücken, dass das Café ein Ort ist, an dem man sich ruinieren, verrückt werden oder Verbrechen begehen kann. Ich habe also sozusagen versucht die finsteren Nächte in einer gemeinen Kneipe darzustellen … und das alles in einer Atmosphäre, fahl und schwefelig, wie ein Teufelsofen.“
Van Gogh bezeichnete dieses Bild selbst als „eines der krassesten, die ich je gemalt habe“. In der Tat hat er mit diesem Werk einen entscheidenden Schritt zur subjektiven, expressiven Kunst unternommen.
Die einzelnen Komponenten des Bildes, die Gegeneinandersetzung der Komplementärfarben, die extremen Linien der Perspektive, die den Raum erst aufblähen, um dann abrupt im Hintergrund zusammenzulaufen, wie auch die spannungsreiche Komposition der Figuren und Gegenstände lassen eine Kaffeehausszene entstehen, in deren Mittelpunkt die Wiedergabe der Empfindung des Künstlerindividuums zur Darstellung gelangt.
Van Gogh war in seiner Kunst zu der Auffassung gelangt, dass sich seine Gefühle anhand alltäglicher Sujets, die expressiv gestaltet wurden, weitaus direkter vermitteln ließen als durch gesuchte Themen, denen der Bezug zur Wirklichkeit fehlte. In diesem Zusammenhang spielen die Interieurs bei Van Gogh eine wichtige Rolle. Das „Nachtcafé“ ist neben dem „Schlafzimmer in Arles“ aus demselben Jahr seine bedeutendste Gestaltung dieses Sujets. Die Innenräume, die Van Gogh malte, waren für ihn stets mit einem persönlichen Bezug behaftet, und ihre Darstellungen geraten zu Illustrationen seiner Biographie. Bei dem Bild des „Nachtcafés“ hat er dabei die auf ihn wirkende Gesamtatmosphäre dieses Kaffeehauses herausgehoben und so eine ganz andere Sicht des Themas offenbart, als sie in den impressionistischen Kaffeehausszenen vorherrscht. Mit diesem Gemälde hat Van Gogh die impressionistische Gestaltung überwunden und eine neue Entwicklung der Ausdrucksmöglichkeiten dieses Motivs eingeleitet.
Neben Van Gogh hat um die Jahrhundertwende auch Edvard Munch die individuelle Erfahrung der Umwelt in seinen Bildern thematisiert. In diesem Zusammenhang entstanden auch einige Werke zum Thema Kaffeehaus. Diese Darstellungen sind weitgehend im Kontext der „Kristianaboheme“ entstanden. Die „Boheme“ war eine gesamteuropäische Erscheinung, deren Anhänger das Postulat der künstlerischen Freiheit in jeder Beziehung leben wollten In Norwegen entwickelte sich aus der „Boheme“-Bewegung eine der einschneidendsten Veränderungen der Kulturszene. Im Gegensatz zu anderen europäischen Großstädten hatte Oslo am Ende des letzten Jahrhunderts noch nicht den Charakter einer Metropole. Was im übrigen Europa lediglich registriert wurde, traf hier auf so massiven Widerstand, dass sich im geistig-kulturellen Bereich „ein Kampf auf Leben und Tode entfachte, der sowohl politische als auch soziale Spuren hinterließ (…)“ (Ragna Stang, Edvard Munch – der Mensch und Künstler)
Das Milieu der „Boheme“ waren die Kaffeehäuser und Ateliers, in denen ständige Diskussionen das Leben bestimmten. In Munch, der sich der Bewegung nie direkt angeschlossen hat, aber mit den Wortführern – wie zum Beispiel Hans Jäger – eng befreundet war, hinterließ dieses „Boheme“-Leben einen starken Eindruck.
Im Jahr 1895 sind zwei Radierungen mit dem Titel „Kristianaboheme“ entstanden, die dieses Kaffeehausmilieu thematisieren. Die erste zeigt den Kreis einiger Bohemefreunde, die im dämmrig diffusen Licht um einen Tisch mit Flaschen und Gläsern sitzen. Im Widerspruch zur turbulenten Dynamik der Realität ist die Gestaltung bemerkenswert ruhig. Die Erscheinung der Figuren ist blockhaft und statuarisch aus dem Hintergrund herausgearbeitet, ihre Gesichter zeigen einen abgeklärt-zurückgezogenen Ausdruck. Die gesamte Szene ist von einer geheimnisvollen Aura umgeben. Diese Ausstrahlung ist bei der zweiten Radierung noch eindringlicher. Die Gestaltung der Kaffeehausszene schafft eine surreales, fast mystisches Ambiente. Die Figuren, die sich hier zum „Boheme“-Treffen versammelt haben, können als Masken mit verschiedenen Bedeutungen identifiziert werden. Es bieten sich mehrere Möglichkeiten der thematischen Zuordnung an: zum einen die verschiedenen Lebensalter, des weiteren eine Allegorie des Todes und schließlich die Darstellung der bei Munch häufiger vorkommenden Madonna. Die Hauptperson der Szene scheint diese „Gesichte“ mit visionärem Blick wahrzunehmen, während sie mechanisch nach dem Glas greift. Die durch den Raum ziehenden Rauchschwaden wirken wie eine Verdeutlichung der unwirklichen Sphäre. Munch hat in dieser Kaffeehausszene die spezifische „Boheme“-Atmosphäre zum Ausdruck gebracht. Die symbolischen Hinweise gestalten ein Sinnbild der geistig-intellektuellen Substanz der Bewegung.
Munch hat vor diesem Hintergrund auch die einzelnen Porträts seiner „Boheme“-Freunde und vor allem die Bildnisse Henrik Ibsens gearbeitet. Munch bewunderte das Werk seines Landsmannes Ibsen und beschäftigte sich über mehrere Jahr hinweg mit dem Porträt des Schriftstellers. 1902 entstand die Radierung „Henrik Ibsen im Café des Grand-Hotels“. Dieses Kaffeehaus war der bevorzugte Treffpunkt des Osloer Intellektuellenkreises und schien Munch schon aus diesem Grund als geeignete Folie für die Darstellung Ibsens. Der Kopf des Dramatikers ist vor einem dunklen Vorhang dargestellt, der rechts den Blick durch ein Fenster auf die belebte Straße freigibt. Die Haupt- und Barthaare umgeben das Gesicht wie eine Aureole. Den übrigen Körper bekleidet ein dunkler Anzug; er ist deshalb auf dem Bild nicht von der Umgebung zu unterscheiden. Auf diese Weise erscheint das Gesicht Ibsens wie eine Flamme vor dem Dunkel des Hintergrundes. Das Porträt des Schriftstellers erscheint durch diese Reduzierung als auf das Wesentliche konzentriert. Das Kaffeehaus wird nicht als differenzierter Raum abgebildet, sondern deutet sich lediglich als „Innen-Raum“ gegenüber der vor dem Fenster vorbeiziehenden „Außen-Welt“ an. Diese Gestaltung unterstützt zusätzlich die Auffassung des Dichters als geistig-intellektuelle Instanz. Vier Jahre später hat Munch diese Radierung in einem Gemälde verarbeitet, in welchem er jedoch durch eine ausführlichere Beschreibung des Interieurs und Hinzufügung einiger Details die imaginäre Darstellung eines „Genius“ zurücknimmt.
Gespräch mit Ibsen im Grand Café
Im Hinblick auf die expressionistischen Kaffeehausszenen werden sowohl durch Van Gogh als auch durch Edvard Munch die wichtigsten Grundlagen der Ikonographie geschaffen. Das von den Impressionisten auf eine rein formale und objektive Sichtweise festgelegte Motiv wird durch diese „Väter“ des Expressionismus seinen Möglichkeiten der inhaltlichen Aussage zugeführt. Hierbei spielt vor allem der persönliche Bezug und die individuelle Erfahrung eine große Rolle. Die Kaffeehausszenen können den Ausdruck psychischer Befindlichkeiten vermitteln oder zur Charakterisierung einer spezifischen Atmosphäre herangezogen werden. Im Expressionismus wird diese Kaffeehausthematik zu einem wesentlichen Bestandteil der Malerei und Grafik.
„Kaffeehausszenen“ in Kulturtussi.de:
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