Ein Betonbau mit schrägem Dach, das von links unten nach rechts oben verläuft. An den Pfeilern vor der Fassade wachsen grüne Pflanzen.

Louvain-La-Neuve und das Musée L

Als Barbara Buchholz von Tourismusverband Belgien-Tourismus Wallonie uns Herbergsmüttern Vorschläge für unsere Kultour Wallonie 2023 machte, brauchte sie nur das Stichwort Brutalismus zu erwähnen und ich rief laut hier! Ausgemacht, die Route, auf der Louvain-La-Neuve als Besichtigungspunkte stand, war meine. Nun schon im zweiten Jahr durften wir auf die Kultour Wallonie gehen und diesen Teil von Belgien erkunden. Jede Herbergsmutter in einer andere Region, um am Ende zum gemeinsamen Finale zusammenzukommen. Dieses Jahr wurde das in Mons gefeiert. Doch davon später mehr. Hier berichte ich euch von meinen Reiseerlebnissen und nehme euch mit zu meiner ersten Station: nach Louvain-La-Neuve, eine Stadt ca. 30 Kilometer vor Brüssel.

Planstadt nach Konflikt

Kennt ihr Brasilia mit den Bauten Oscar Niemeyers oder Le Corbusiers Chandigarh? Das sind architektonische Ikonen der Nachkriegsmoderne – von vielen Archilovers gefeiert. Auf dem Reißbrett entstanden und auf freier Fläche gebaut. An solchen Vorbildern orientiert sich auch die Planung von Louvain-La-Neuve – das neue Löwen. Sie ist als Universitätsstadt für die französischsprachige Lehre geplant worden. Hintergrund war der flämisch-wallonische Konflikt in dessen Folge man 1968 die Trennung der Universität Löwen in einen niederländischsprachigen und einen französischsprachigen Zweig einforderte. (Funfact: Bei der Trennung musste auch die Bibliothek aufgeteilt werden und man teilte angeblich nach geraden und ungraden Signatur-Nummern). So entstand von 1969 – 1971 aus dem Nichts eine Stadt, die als riesiger Campus geplant wurde. Eine Stadt, die auf der zwiespältigen Geschichte Belgiens fußt und ich stelle fest, dass ich immer noch nicht richtig erfasst habe, wie das eigentlich ist mit dieser Trennung in Wallonen und Flamen – und nicht zu vergessen: es gibt auch noch die deutschsprachige Minderheit. Wenn es nach mir ginge, könnte man sich doch fabelhaft aus allem das Beste herauspicken und eine schöne Mischung herstellen. Aber anscheinend ist es die Beziehung weiterhin kompliziert in diesem kleinen Land.

Die Planung von Louvain-La-Neuve geht auf den Kunsthistoriker und Architekturhistoriker Raymond M. Lemaire zurück, der auch Professor in Löwen war. An der Ausführung war auch Lucien Kroll beteiligt, ein Architekt, der vor allem für seine partizipativen Gestaltungsideen bekannt war. Ich kann mir gut vorstellen, mit welcher Begeisterung man sich damals ans Werk machte, ohne Beschränkung durch vorhandene Strukturen endlich gelebte Utopie zu erbauen.

Beim Spaziergang durch die Stadt (hui, ganz schön hügelig hier) merke ich: Ein bisschen in die Jahre gekommen ist die Architektur heute schon und aus vielen Fenstern und Balkonen winkt ein fröhliches Chaos, das nach Wohngemeinschaft riecht. Es lässt sich aber hier ganz wunderbar autofrei durch die Innenstadt flanieren – der Verkehr wurde unter eine riesige Betonplatte verbannt. Und ein eigens angelegter kleiner See schafft große Freizeitqualität. Der typisch belgische Klinker ist hier in vielen Fassaden zu sehen, die Fakultäten und Bildungseinrichtungen zeigen Sichtbeton. Streetart begleitet einen auf Schritt und Tritt. Junge, freundliche Menschen allerorten („Bonjour Madame, machen Sie einen Spaziergang?“). Es gibt allerdings auch deutlichen Leerstand in der Innenstadt. Feste Einwohner hat das Städtchen wohl nur 10.000. Hinzu kommen knapp 20.000 Studierende, die aber meistens nicht dauerhaft bleiben. Das hat bestimmt auch Auswirkungen auf die Stadtgestaltung.

Besonders in Louvain-La-Neuve ist trotz allem anscheinend auch ein starkes gemeinnütziges Moment prägend, das sich in den  kot-à-projet zeigt, kurz kap genannt. Hier kümmern sich einzelne Wohngemeinschaften um unterstützenswerte Projekte. Was für eine tolle Idee. Auch bei dem traditionellen 24-Stunden-Rennen in Louvain-La-Neuve spielt das Sammeln für gemeinnützige Projekte eine Rolle.

Die Stadt ist eingebettet in eine weitläufige Natur und ich sah nicht wenige Wandersleut durchziehen. Auch das Musée Herge ist ein Highlight, das zahlreiche Touristen in die Stadt zieht, um Tim und Struppi zu huldigen. Also: ein wirklich lohnenswertes Ausflugsziel, das gerade für uns Rheinländer schnell zu erreichen ist.

Musée L

Mein absolutes Highlight dieses Besuchs in Louvain-La-Neuve war aber die ehemalige Bibliothèque des Sciences et Technologies der Katholischen Universität Löwen. Sie gilt als herausragendes Beispiel brutalistischer Architektur und geht auf den belgischen Architekt André Jacqmain zurück, der sie Anfang der Siebzigerjahre erbaut hat. Heute beherbergt sie das Musée L – ein Universitätsmuseum, das mich gleich mehrfach überrascht hat.

Einmal ist natürlich der Anblick von außen einfach sensationell. Ein ikonischer Bau, der mit Sichtbeton und monumentalen Formen besticht. Vom Platz der Wissenschaften her – ein Viereck aus Holzplanken, auf dem sich sicherlich wunderbar chillen lässt – sieht man überdies eine Art vertikalen Garten, der an den vorgelagerten Pfeilern herunterrankt. Diese Kombination zwischen Natur und Beton liebe ich ja besonders – zumal für mich Beton ein sehr natürlicher Baustoff ist. Herrlich, wenn die Holzverschalung auch immer noch sichtbar ist.

Innen besticht der Bau durch mehrere Ebenen, die immer wieder neue Sichtachsen hervorrufen. Das Museum beherbergt eine universitäre Sammlung, die von vielen Wissenschaftler:innen zusammengetragen wurde. So findet man dort Kunst vom Mittelalter bis in die Neuzeit, naturhistorische und archäologische Funde sowie Forschungsgegenstände aus unterschiedlichen Kontexten. Es gibt eine kleine Sammlung außereuropäischer Kunst und spannende Exponate der Volkskunst. Man wandelt sozusagen im gesamten Wissen der Menschheit und es bieten sich sehr viele Möglichkeiten der Reflexion. Das Museum sagt von sich selbst, es möchte ein Ort des Austauschs und des Lebens sein, der Emotionen und Entdeckungen gewidmet ist.

Die Art und Weise, wie man in einem Museum empfangen wird, sagt ja auch sehr viel über das ganze Haus aus. Und so hat das überaus freundliche Team am Ticketschalter mich schon bald für sich gewonnen. Und herzlichen Dank an Marie Baland, die mir eine ganz reizende Notiz hinterlassen hat und in deren Namen ich einige feine Geschenke überreicht bekam: einen Guide durch das Haus und ein wunderschönes Notizbuch. Beides kommt übrigens in unseren Wallonie-Büggel, den wir gemeinsam verlosen werden. Details dazu könnt ihr dann bei den Herbergmüttern lesen.

Ich konnte zudem den Medienguide nutzen (der ist übrigens barrierefrei angelegt) und war ganz entzückt, als ich die Direktorin Anne Querinjean in ihrem Einführungsvideo sagen höre: Dies ist Ihr Museum! Dieser so simple und sympathische Appell, sich das Museum zu eigen zu machen und es in einem eigenen Tempo zu entdecken, hat mich sehr berührt. Und ich finde diesen Gedanken der eigenen Erfahrungen, die man mit dem Raum und mit der Sammlung machen kann, auch an vielen Stellen im Haus eingelöst. Man folgt zentralen Schlüsselmomenten durch das Museum: einmal dem Staunen, dann dem Fragen, der Suche nach Wissen, weiter dem Nachspüren von Emotionen und zum Schluss dem Weg der Kontemplation. Angeregt von den Exponaten, einigen Impulsen an der Wand und zahlreichen Mitmach-Stationen wandelt man so durch die Kunst und all das Wissen.

Museum mit allen Sinnen erfahren

Und dann bin ich noch zufällig in etwas Wunderschönes geraten. Eine Veranstaltung, die mein Vermittlerinnenherz höher schlagen ließ und die ganz wunderbar in dieses fantastische Haus passte. Ich durfte beobachten, wie Muriel Damien eine Gruppe Besucher:innen dazu anleitete, eine Art Meditation und Achtsamkeitsübung in der Begegnung mit den Kunstwerken durchzuführen. Ich sah Menschen auf Socken durch den Raum wandern, die Handflächen nach außen gedreht und der ruhigen Stimme folgend, die sie anregte, bestimmte Details aus den Bildern zu fokussieren und gleichzeitig in ihren Körper hineinzuspüren. Sie sollten auf ihren Atem achten, fühlen, ob bestimmte Bildelemente ihnen ein warmes oder kaltes Gefühl vermitteln und diesem länger nachzuspüren. Es herrschte eine ganz besondere Stimmung im Raum – friedlich und konzentriert.

Ich konnte mich nachher noch etwas mit Muriel austauschen, die mir erzählte, dass sie diesen Vermittlungsansatz aus ihrer Forschungsarbeit heraus entwickelt habe – das Projekt heißt „Art en Corps“ und ist ein großartiger Ansatz der Kunstvermittlung. Man kann das auch für Gruppen buchen und ich kann gerne den Kontakt zu Muriel vermitteln, falls jetzt jemand Lust bekommen hat, das auszuprobieren.

Was mir auch noch positiv aufgefallen ist, sind die zahlreichen Sitzgelegenheiten im Musée L. Ich habe mich früher schonmal darüber beklagt, dass dies meist sträflich vernachlässigt wird (oft, weil Kurator:innen ihre sorgsam ausgesuchte Hängung dadurch nicht stören wollen), aber hier im Musée L achtet man einfach insgesamt mehr auf das Wohlbefinden der Besucher:innen. So zumindest war mein Eindruck. Und da gehört es einfach dazu, dass man sich ab und an ein bisschen setzen kann. Neben klassischen Lederwürfeln sind mir auch die Stühle in klassischem Design aufgefallen.

2015 hat man den Bau komplett überarbeitet und deswegen erstrahlt er heute auch in seiner ganzen Pracht. Denn das wird oft zum Problem, wenn brutalistische Architektur nicht gepflegt wird. Natürlich nagt nach 50 Jahren oft der Zahn der Zeit an diesen Bauten. Wenn sie aber entsprechend in Wert gehalten werden, vermittelt sich bis heute die Faszination dieses von mit so geschätzten Architekturstils.

Das war mein erster Tag auf der Kultour-Wallonie 2023. Ich nehme euch im nächsten Beitrag weiter mit auf meine Entdeckungsreise durch diese zauberhafte Region Belgiens.


Transparenzhinweis: Die Reisekosten wurden vom Tourismusverband Belgien-Tourismus Wallonie übernommen, inklusive Anreise und Auslagen. Herzlichen Dank für die schöne Vorbereitung und Betreuung während der Reise. Im Musée L hatte ich freien Eintritt.

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Kommentare

4 Antworten zu „Louvain-La-Neuve und das Musée L“

  1. Avatar von frau Vogel

    Ach wie schön, deine Reise nochmal mitzuerleben. Auch wenn ich deine Begeisterung schon gleich über Social Media mitbekam, kriege ich jetzt nochmal und wieder Lust, das selber zu sehen.

    1. Avatar von Kulturtussi
      Kulturtussi

      Ich werde mit Sicherheit auch nochmal hinfahren. Es gibt noch viel zu sehen und ich möchte auch gerne eine kleine Wanderung machen. Das Museum ist wirklich der Hammer.

  2. […] zweite Etappe meiner Kultour Wallonie war sehr spannend (die erste lest ihr hier nach) . Ich hatte die absolut poetischste Inszenierung in der Fondation Folon. Ein tolles Museum vom […]

  3. Avatar von sinnundverstand
    sinnundverstand

    So, endlich kann ich in Ruhe lesen, was sich bei Instagram erahnen ließ. Was für ein wunderbarer Ort, den ich nun unbedingt besuchen möchte. Dort scheint ein guter Geist zu herrschen. Von kot-à-projet bis zum einladenden Ton des Museums – gelebte Utopien.

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