Ich sitze mitten im Epizentrum des Kölner Karnevals und sehe Horden von bunt geschminkten und abenteuerlich verkleideten Menschen Richtung „Quartier Lateng“ ziehen. Das Verkleiden und äußerst phantasievolle Gestalten von Kostümen – meist in Rudeln vorkommend – scheint hier in dieser Ecke besonders ausgeprägt. Unwillkürlich musste ich an Joseph Beuys denken. Seine immer wieder zitierten Worte „Jeder Mensch ist ein Künstler“ scheinen sich an Karneval zumindest irgendwie in die Praxis umzusetzen.
Auch wenn Beuys da immer etwas aus dem Zusammenhang gerissen zitiert wird. Eigentlich sagte er Folgendes:
„Jeder Mensch ist ein Künstler.Damit sage ich nichts über die Qualität. Ich sage nur etwas über die prinzipielle Möglichkeit, die in jedem Menschen vorliegt…Das Schöpferische erkläre ich als das Künstlerische, und das ist mein Kunstbegriff.“
Beuys steht für die Erweiterung des Kunstbegriffs und ohne ihn wäre ein Großteil der heutigen Kunst überhaupt nicht existent. Er ist derjenige, der in den 60er Jahren entscheidend zu diesem Paradigmawechsel beigetragen hat und seine Wirkung bis heute kann gar nicht oft genug betont werden. Es gibt aus meiner Sicht kaum einen anderen Künstler, der ähnlich kraftvoll die Kunst beeinflusste. Außer vielleicht meinem anderen „Held“ der Kunst des 20.Jahrhunderts, Picasso. Aber zurück zu Beuys. Die Kommunikation und Aktion, das Menschliche, Gefühle und Gedanken, all das findet Eingang in die Beuyssche Kunst, die in ihren Wurzeln zurückreicht zu mittelalterlicher Materialästhetik und zum Beispiel in den ungeheuer feinen und zarten Zeichnungen zum Universalgenie Leonardo da Vinci.
Die wohl entscheidenste und wichtigste Aktion in der Entwicklung des „erweiterten Kunstbegriffs“ ist die Aktion, in welcher Beuys einem toten Hasen die Bilder erklärt. Eine Performance, während der Beuys sein Gesicht mit Blattgold und Honig bedeckte (Energiequellen, Kostbarkeit) und mit einem toten Hasen im Arm durch Ausstellungsräume lief. Die Zuschauer konnten die Aktion von draußen beobachten und wurden erst später eingelassen. So provokant so eine Aktion auch in heutiger Zeit immer noch wirken mag (vor allem da, wo tote Tiere mitspielen), so wichtig ist der Aspekt der Vermittlung von Kunst.
„Für mich ist der Hase das Symbol für die Inkarnation, Denn der Hase macht das ganz real, was der Mensch nur in Gedanken kann. Er gräbt sich ein, er gräbt sich einen Bau. Er inkarniert sich in die Erde, und das allein ist wichtig. So kommt er bei mir vor. Mit Honig auf dem Kopf tue ich natürlich etwas, was mit denken zu tun hat. Die menschliche Fähigkeit ist, nicht Honig abzugeben, sondern zu denken, Ideen abzugeben. Dadurch wird der Todescharakter des Gedankens wieder lebendig gemacht. Denn Honig ist zweifelslos eine lebendige Substanz. Der menschliche Gedanke kann auch lebendig sein. Er kann aber auch interellektualisierend tödlich sein, auch tot bleiben. Sich todbringend äußern etwa im politischen Bereich oder der Pädagogik.“
Der Hase als Symboltier steht allerdings auch seit jeher für ein ungezügeltes Verlangen und steht für Fruchtbarkeit. Sein schneller Lauf versinnbildlicht den raschen Lauf der Zeit – eine Art „memento mori“. Beides sind Aspekte, die man zur Karnevalszeit vielleicht ebenfalls im Blick haben könnte. Beuys hätte diese Vorstellung bestimmt gefallen. Wie er zu Karneval stand, ist nicht überliefert, jedoch ist der Ursprung des Festes in alten Mythen ganz im Sinne des „erweiterten Kunstbegriffs“ ein Anlass für alle Jecken, ein Künstler zu sein.
Alaaf!!!!
Passend dazu fand ich ein sehr schönes Posting in weltweiten Netz:
Es war Weiberfastnacht 1979 in Düsseldorf. (…) Wir machten uns zu Fuß auf den Weg zu ihrer Wohnung auf der anderen Rheinseite. Mitten auf der Brücke schlug das Wetter um – aus Nieselregen wurde dichtes Schneetreiben. In Oberkassel angekommen stapften wir durch knöcheltiefen Schnee und konnten bald die Hand vor Augen nicht sehen. Am Drakeplatz sahen wir dann allerdings eine bekannte Silhouette: ziemlich groß, Hut, weiter Mantel. Joseph Beuys brachte wohl einen Brief zum Briefkasten. Er sah uns und blieb erstarrt stehen. Unsere Silhouetten waren anscheinend auch nicht von schlechten Eltern. Zwei eher kleine Gestalten, einmal in bayerischer Tracht und einmal in Knickerbockern und Tropenhelm. Wir zogen spontan alle drei die Hüte…ich gebe zu, Joseph Beuys lüpfte den seinen nur so angedeutet, so’n bisschen. Dann fragte er: „Haben wir denn schon wieder Karneval?“ Meine Kollegin und ich bejahten und zogen weiter. Tief hatte uns damals beeindruckt: die Fähigkeit des großen Künstlers, merkwürdige Situationen zu erfassen. Und daß er offensichtlich in ganz anderen Welten weilte (vielleicht eben aus New York zurückgekommen?). Und die sehr gute Qualität seines weit geschnittenen Mantels: der Stoff wehte und wallte, als er zu seiner Haustür schritt.
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