Im Zusammenhang mit den Kaffeehausszenen ist es von ungeheurer Bedeutung, die Entwicklung des modernen Sujets im Zusammenhang mit einer kulturgeschichtlichen Entwicklung zu sehen, die die Moderne mit der industriellen Revolution verbindet: die Entstehung der Großstadt, derMetropole. Ein Erfahrungsraum, der überhaupt erstmals im 20. Jahrhundert möglich ist und der völlig neue Wahrnehmungen möglich macht. Die Künstler der Moderne haben auf diese Entwicklung reagiert und die neuen Reize in ihre Kunst übernommen. Besonders am Beispiel Berlin zeigt sich der Kreativitätsschub durch das Neue.
Berlin, Alexanderplatz um 1906. Warenhaus (hier Tietz, aus dem Karstadt hervorging) und die Elektrische. Beides unverzichtbare Bestandteile der Moderne!
Nachdem die Auswirkungen der industriellen Revolution auch in Deutschland zu spüren waren, hat sich die Großstadt um die Jahrhundertwende zum wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Zentrum herausgebildet. Mit dieser Entwicklung ging auch die Festsetzung neuer Voraussetzungen für das Leben in der Stadt einher. Eine Untersuchung der psychologischen Grundlagen dieser neuen Erfahrungen ist schon kurz nach 1900 von Georg Simmel veröffentlicht worden. Als wesentlichen Aspekt arbeitet er in seiner Studie die „Steigerung des Nervenlebens“ heraus, da auf eine Flut von Eindrücken reagiert werden müsse.
„Indem die Großstadt gerade diese psychologischen Bedingungen schafft – mit jedem Gang über die Straße, mit dem Tempo und den Mannigfaltigkeiten des wirtschaftlichen, beruflichen, gesellschaftlichen Lebens – stiftet sie schon in den sinnlichen Fundamenten des Seelenlebens, in dem Bewusstseinsquantum, das sie uns wegen unserer Organisation als Unterschiedswesen abfordert, einen tiefen Gegensatz gegen die Kleinstadt und das Landleben, mit dem langsameren, gewohnteren, gleichmäßiger fließenden Rhythmus ihres sinnlich-geistigen Lebensbildes.“
Otto Dix, Großstadttryptichon, 1927
Solche wahrnehmungspyschologischen Aspekte finden ihren Niederschlag auch in der Malerei, die im Expressionismus die Großstadtkunst als ein wichtiges Genre herausbildet.
Von primärer Bedeutung für die Kunst war die Großstadt zunächst in ihren vielfältigen Vorzügen als Metropole. Hierbei ist insofern der ökonomische Aspekt zu betonen, als die Großstadt für die Künstler aufgrund eines breiteren und auch kaufkräftigeren Publikums ideale Arbeitsbedingungen schuf. Im Laufe der Zeit entwickelte sich aus diesen Vorgaben der Großstadt ein immer wichtiger werdender Einfluss auf die Entwicklung der Kunst.
Berlin
Die Stimmen der Autos wie Jägersignale
Die Täler der Straßen bewaldend ziehn.
Schüsse von Licht .Mit einem Male
Brennen die Himmel auf Berlin.
Die Spree, ein Antlitz wie der Tag,
Das glänzend meerwärts späht nach Rettern,
Behält der wilden Stadt Geschmack,
Auf der die Züge krächzend klettern.
Die blaue Nacht fließt in den Forst.
Sie fühlt, geblendet, daß du lebst.
Schnellzüge steigen aus dem Horst!
Der weiße Abend, den du webst,
Fühlt, blüht, verblättert in das All.
Ein Menschenhände-Fangen treibst du
Um den verklungnen Erdenball
Wie hartes Licht; und also bleibst du.
Wer weiß, in welche Welten dein
Erstarktes Sternenauge schien,
Stahlmasterblühte Stadt aus Stein,
Der Erde weiße Blume, Berlin.
(Paul Boldt, 1914)
Berlin ist hierfür, gerade im Zusammenhang des Expressionismus, ein herausragendes Beispiel. Während des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts wuchs Berlin zur größten Stadt Deutschlands heran. Von 1880 bis 1910 verdoppelte sich die Einwohnerzahl auf zwei Millionen. Berlin war die Hauptstadt des Kaiserreichs – eine Tatsache, die nicht ohne Auswirkungen auf das Stadtleben und auch auf die Kunstentwicklung gewesen ist. Zur gleichen Zeit lebte in Berlin aber auch ein emanzipiertes Bürgertum, das die kunstpolitischen Vorgänge entscheidend mitbestimmte und dessen ausgeprägtem Mäzenatentum Berlin die Reifung zur „Hauptstadt“ der intellektuellen Avantgarde zu verdanken hat. Obwohl Dresden und München bei der Entwicklung des Expressionismus entscheidende Impulse gegeben haben, vollzog sich die Durchsetzung und Ausbreitung dieser Kunst in Berlin. Hinzu kommt, dass sich erst hier die entscheidenden Tendenzen des Expressionismus entwickelten. „In Berlin ist der deutsche Expressionismus städtisch geworfen, in Berlin hat sich der Expressionismus der bildenden Kunst mit dem literarischen Expressionismus verbündet, in Berlin hat der Expressionismus seine Unschuld verloren.“ (Roters)
Ludwig Meidner, Die Straße, 1913/1918 (aus der Mappe: Straßen und Cafés)
Besondere Bedeutung muss hinsichtlich der Ausbildung des „reifen“ Expressionismus der Übersiedelung der „Brücke“-Mitglieder nach Berlin beigemessen werden. Nachdem Pechstein schon 1908 einem lukrativen Auftrag nach Berlin gefolgt war, zog Kirchner nach wiederholten Aufenthalten 1911 endgültig dorthin; kurz darauf folgten ihm Schmidt-Rottluff und Heckel. Nachdem in Dresden die Entwicklung einer neuen Formensprache weitgehend abgeschlossen war, ging es nun in Berlin mehr um die Diskussion inhaltlicher Aspekte der Kunst. Kirchner bleibt jedoch der einzige der „Brücke“-Künstler, der sich intensiv mit dem Themenkomplex der Großstadt auseinandersetzte. Während Otto Müller sich hier gar nicht engagierte, haben Schmidt-Rottluff und Heckel sich nur ganz allgemein mit den Erfahrungen der Großstadt beschäftigt.
Filippo Tommaso Marinetti, Collage von 1914, Bewegung und Reizüberflutung scheinen hier zur Ikone der neuen Zeit festgehalten worden.
Schon 1910 hatte es in Berlin entscheidende Umwälzungen der aktuellen Kunstszene gegeben. Im Zuge der Debatte um die Aufgaben und Ziele der „Berliner Sezession“, die mit ihrem Präsidenten Max Liebermann das Geschehen beherrschte, war ein Großteil der jungen Künstler nicht zur Jahresausstellung zugelassen worden. Dies hatte die Veranstaltung einer Gegenausstellung zur Folge, die zur Gründung der „Neuen Sezession“ führte, deren Initiatoren Max Pechtstein und Georg Tappert waren. Auch die übrigen Maler der „Brücke“ traten ihr bei. Im Begleitheft zur dritten Ausstellung der „neuen Sezession“ im Frühjahr 1911 wurde ein Programm veröffentlicht, das wesentliche Aspekte der expressionistischen Kunst formulierte. Bald darauf jedoch erklärten die „Brücke“-Künstler ihren Austritt aus der Gemeinschaft, die ihrer Meinung nach die Trennung von den Traditionellen Werten nicht eindeutig vollzogen hatte. Max Pechstein schloss sich daraufhin der alten „Sezession“ wieder an, während sich die anderen 1912 mit dem „Sturm“-Kreis um Herwarth Walden verbanden.
Das Zusammenkommen vieler Künstlerpersönlichkeiten in Berlin und die damit verbundene direkte Konfrontation der verschiedenen Auffassungen schufen besonders in den Jahren von 1910 bis 1912 entscheidende Voraussetzungen für den Weg des Expressionismus. In diesem Zusammenhang kann von einer wechselseitigen Beeinflussung von Großstadt und Kunstlandschaft gesprochen werden. Die aktuelle Szene, die in ihrer Ausprägung wesentlich von den Künstlern bestimmt wurde, war wiederum ein wesentlicher Faktor, der zur Attraktivität der Großstadt für Kunstschaffende beitrug.
Die sekundäre Bedeutung der Stadt als Thema der Kunst manifestierte sich deutlich nach der ersten Futuristen-Ausstellung in der „Sturm“-Galerie. Die von Marinetti in einem Manifest geschaffene Parole der „passione per la città“ beeinflusste neben der zeitgenössischen Lyrik auch die Malerei und Grafik in Deutschland. Ludwig Meidner nahm als einer der ersten Künstler diese Anregungen begeistert auf:
„Wir müssen endlich anfangen, unsere Heimat zu malen, die Großstadt, die wir unendlich lieben. Auf unzählige freskengroße Leinwände sollten unsere biebernden Hände all das Herrliche und Seltsame , das Monströse und ‚Dramatische der Avenüen, Bahnhöfe, Fabriken und Türme hinkritzeln.“
Meidner erhob in diesem Zusammenhang auch die Forderung nach ganz neuen formalen Ausdrucksmitteln, die in der Lage sein sollten, die Atmosphäre der Großstadt wiederzugeben. Die Faszination, die von dem neuen und historisch unverarbeiteten Erlebnis der Großstadt ausging, traf den Kern des expressionistischen Lebensgefühls, der sich in erster Linie in einer Aufbruchstimmung vermittelte. Else Lasker-Schüler beschreibt begeistert den „mächtigen Atemschlag“ Berlins, ist angetan von der „gewaltigen Bewegungsmöglichkeit“ und dem „Austausch des spannenden Gaukelspiels seiner pulsierenden Gedanken und Gefühle.“ Hugo Ball schreibt in Briefen kurz nach seiner Ankunft in Berlin im Jahr 1914: „Das Leben hier ist grandios und überstürzt mich mit Eindrücken. (…)Hier geht ein neues Leben los: anarchorevolutionär (…) Widersprechend (…) Aktiv.“
Dieser anfänglich von vielen geteilte Optimismus blieb jedoch nur einige Zeit bestimmend für die Großstadterfahrung. Die sozialen Schattenseiten drängten in den Vordergrund, und auch die Ohnmacht des Individuums gegenüber den Auswirkungen der Massenkultur wurde in der Auseinandersetzung mit der Großstadt thematisiert.
„Dramatisch beherrschen Zwischenfälle, schicksalhaft dein Leben, das dem Rausch der Stadt verfallen ist. Du gehst durch die Straßen: was kann da nicht alles geschehen! Abenteuer lauern, Autos bedrohen deinen Leib, Dirnen deine Seele. (…) Nun ist wieder stählern Alltag; das Rad dreht sich; dem Dasein lbickst du ins Auge; du bist ein Atom des Rekords, die die Zeit aufgestellt hat, um über die Welt hinwegzukommen.“
P. Hatvani
In der Literatur und auch im expressionistischen Film wird die Großstadt als Schicksal des modernen Menschen charakterisiert und als neues „Sodom und Gomorrha“ interpretiert. Ausgehend von dieser Auffassung entstand Richard Dehmels „Predigt an das Großstadtvolk“, in der er zum Verlassen der Großstädte aufforderte. Albert Ehrenstein verfasste in diesem Zusammenhang einen Aufruf zur Zerstörung der Städte und Maschinen. In der bildenden Kunst wurde die ambivalente Großstadterfahrung vor allem im Motiv der wankenden, einstürzenden Architektur deutlich, das unter anderem bei Meidner auftaucht. Die meisten Künstler reagierten mit intensiveren, aggressiveren Farb- und Formgestaltungen auf die spannungsreichen Phänomene der Großstadt. In den Bildern dieser Jahre kristallisiert sich das Innenbild als Folgerung der Erkenntnis heraus, dass nicht mehr die Erscheinung sichtbar zu machen war, sondern Erlebnis.
Im Film „Metropolis“ wird die Großstadt als recht ferne Utopie skizziert. 1927 wird der Film von Fritz Lang in Berlin uraufgeführt. Die Realität ist anders doch nicht minder spektakulär!
Das eigentliche Thema der expressionistischen Großstadtkunst ist dabei nicht in erster Linie der Gesamtkomplex Stadt. Das Interesse der Künstler galt vielmehr den Menschen, die in der Großstadt lebten. Hierbei spielt die Herausbildung spezifischer Typisierungen ebenso eine Rolle wie die Beziehung des Individuums zu seiner Umwelt.
„Kaffeehausszenen“ in Kulturtussi.de:
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