Blick auf den Eingang zum Hauptquartier der Biennale in Lüttich. Auf einem Banner steht Mutantx

Das mögliche Bild. Besuch einer großartigen Biennale in Lüttich

Lüttich präsentiert sich mir in immer wieder neuen Facetten und ich bei meinem letzten Besuch habe ich mich vollends in diese belgische Stadt verliebt. Sie macht kein großes Aufheben und natürlich rutscht man hier oft vorbei auf dem Weg nach Brüssel oder gar Paris. Aber ich kann nur sagen: steigt aus, es lohnt sich total. Und in der Zeit bis zum 1. Juni nochmal mehr. Denn da findet die Biennale de L’Image Possible statt. Bereits zum 13. Mal und ich habe sie erst jetzt entdeckt!! Aber besser spät als nie! Man lernt die Stadt noch einmal aus einer völlig neuen Perspektive kennen. Ein tolles Team mit einem spannenden partizipativen Konzept. Dank einer wunderbar organisierten Pressetour mit Belgien Tourismus Wallonie konnte ich schon einiges sehen, werde aber sicher noch einmal wiederkommen! Ute hat ihre Eindrücke bereits hier verbloggt und jetzt nehme ich euch mit durch auf Biennale-Tour.

Biennale de L’Image Possible

Die Biennale de L’Image Possible hat sich eigentlich aus einem fotografischen Schwerpunkt heraus entwickelt, den man an manchen Stellen auch merkt. Aber ganz im Sinne der Vermischung von Genres ist daraus mittlerweile so viel mehr geworden. Mir hat sehr gut gefallen, dass die Ausstellungen unter einem thematischen Schwerpunkt gefasst wurden, der mit dem Begriff Mutantx überschrieben wurde.

Mutantx ordnen ihre Hinterlassenschaften neu an: Indem sie sich manifestieren, bieten Mutantx die Möglichkeit einer Transformation, und zwar über Raum und Zeit hinweg. Das Bild der Mutantx ist das Bild der Vielfalt, der Mischung, der Inklusion und der Versuche. Die Mutantx machen Angst oder man bewundert und beneidet sie: Sie sind an der Grenze von Monstern und Hirn-gespinsten auf der einen Seite, von Wundern und Wunderwerken auf der anderen. Da “Ich ist ein anderer”, wie Arthur Rimbaud schrieb, sind wir alle und jeder von uns ein bisschen Mutantx. In dieser Hinsicht sind Mutantx Hoffnungen.

Intention Note der Biennale de L’Image Possible

Das Wesen aktueller Bilder erforschen und sie im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen sehen, das ist kurz zusammengefasst die Idee hinter der Biennale. Dabei arbeiten sie in kuratorischer Kollaboration mit unterschiedlichen Gruppen zusammen. Mir hat besonders der partizipative Ansatz gefallen, dass im Wechsel Kunsthochschulen eingeladen werden, eine Woche vor Ort arbeiten zu können. Bei der Pressekonferenz betonte Anne-Françoise Lesuisse (künstlerische Leiterin der Biennale) die Energie und Dynamik der Werke, die so entstehen.

Das wollen sie auch mit den Besucher:innen anregen, die in einem Open Lab in der Chiroux-Bibliothek arbeiten dürfen. Das Team der Biennale (entstammt im Wesentlichen aus dem Lütticher Kulturzentrum Chiroux) setzt sich übrigens für jede Ausgabe (1997 war die Premiere) zusammen und überlegt neu, welche zentralen Fragen sie mitnehmen für die Gestaltung. Und für die aktuelle Ausgabe war dies, ob und wie man eine Kunstbiennale aufmachen kann für ein Publikum außerhalb der typische artsy-artsy Blase – wenn ich das mal so frei übersetzen darf. Und konsequenterweise haben sie das Zentrum der Biennale in einen Dritten Ort verwandelt. Interessant auch: über den Eintrittspreis kann man aus drei Kategorien auswählen: 5€ und mehr: Mindesttarif; 10€ und mehr: Ausgleichstarif; 20€ und mehr: Unterstützungstarif.

Ein dritter Ort in der ehemaligen Chiroux-Bibliothèque

Bis in das letzte Jahr war die größte Bibliothek der Provinz Lüttich in einem 70er Jahre Bau am Quai Paul von Hoegaerden untergebracht. Dann zog sie aus dem 7000 m2 großen Gebäude aus. Das Team der Biennale hat seine Büros in direkter Nachbarschaft und so kam die Idee auf, zumindest als Zwischennutzung sich das weitläufige Gebäude als Zentrale der Biennale zu sichern. Natürlich denken viele Kulturschaffende schon weiter und man hat Ideen eingebracht, wie hier ein dauerhafter Dritter Ort entstehen könnte. Mal sehen, wer diesmal gewinnt: Investoren, die das Filetstück am Ufer der Maas in teure Büros und schicken Wohnraum verwerten oder die lokale Kunstszene, die hier ein lebendiges Quartier zum Gemeinwohl entwickeln könnte. Der Kaufpreis ist anscheinend gar nicht so exorbitant hoch. Es könnte mit Unterstützung der Kommune vielleicht gelingen. Aber was fange ich schon wieder das Träumen an – man kennt ja leider zu viele Beispiele, wo ähnliche Ansätze sich nicht gegen die große Macht des gewinnmaximierten Investments durchgesetzt haben.

Lassen wir das beiseite und treten ein in die faszinierende Welt der künstlerischen Interventionen, die mit der verlassenen Bibliothek neue Dimensionen erforscht haben. Zum Beispiel die einer Welt nach dem Ende der Welt. Utopische Szenarien folgen auf dystopische Inszenierungen. Das Labyrinth aus ehemaligen Lesesälen, Archiven und Büros hat sich in einen neuen Kosmos verwandelt. Es gibt richtig viel zu entdecken und ich fand vor allem den spielerischen Umgang mit den Hinterlassenschaften grandios. So haben beispielsweise die beiden Bildhauer Jérôme Degive & Manuel Falcata mit der Arbeit „Natura naturata“ in den verlassenen Büros vorgefundenen Einbauten, Regalen und sonstigen provisorischen Bauteile zu neuen Skulpturen transformiert. Die Künstler forschen zu plastischer Materie und befragen diese in immer neuen Konstellationen.

Überhaupt haben mir die Arbeiten am besten gefallen, die mit dem Ort gearbeitet haben. Ich mochte sehr die Installation von Chantal van Rijt, die die verlassenen Büros mit kleinen Nüpseln bevölkert, die an Einzeller oder Aliens erinnern. Irgendeine Lebensart, die nach dem Verschwinden der Menschheit das Zepter übernimmt. Eine sehr immersive Erfahrung hält Aline Bouvy im ehemaligen Archiv bereit, wo diese mit riesigen Rädern versetzbaren Regale noch vorhanden sind. Man tritt ein und es empfängt einen ein wummernder Bass! Am Ende kriegt man einen gehörigen Schreck, wenn man auf die Schaufensterpuppe oben auf den Regalen trifft. Solche Inszenierungen haben trotz Geisterbahn-Ästhetik ihren immersiven Reiz, denn sie wecken den nutzlos gewordenen Raum zu neuem Leben, das durch die Emotionen der Menschen aktiviert wird.

Sehr viel Eindruck auf mich machte auch die Installation des Kollektiv Creahm, das Menschen mit Behinderungen unterstützt, ihre künstlerischen Potenziale zu entfalten. Eine Gruppe von insgesamt elf Künstler:innen haben in der ehemaligen Bibliothek eine Art begehbare Höhle geschaffen haben, in der man auf traumartige Räume trifft. „Adieu monde nouveau, 2024“ ist das Ganze übertitelt. Das gibt den Assoziationen freien Lauf!

Die Kunst nicht als fixiert und statisch zu betrachten – auch das scheint mir ein Prinzip der Biennale de L’Image Possible zu sein. Bei Loïs Soleil gehört zu ihrer künstlerischen Arbeit auch ein Selbstverteidigungskurs für Frauen. Dieser Kurs findet auf eben jenen Turnmatten statt, auf die sie Tinder-Profile ausgedruckt hat von heterosexuellen Männern, die in der App mit Waffen posieren. Soleil hat für “Tinder_gun_boys_@Brussels_ ein Programm entwickelt, das einen Algorithmus mit genau solchen Profile füttert.

Inseln in ganz Lüttich

Das Erkunden der Ausstellungen in der Bibliothek ist zeitintensiv. Deswegen lohnt sich auch ein mehrtägiger Aufenthalt (in Lüttich gibt es noch genügend andere Dinge zu sehen und zu erkunden) oder mehrmals zu fahren (die Kölner sind ja in einer Stunde da!!!). Denn das sogenannte Archipel zur Biennale ist ein ebenso großartiges Konzept. Wie Trabanten um die Zentrale in der Bibliothek schwirren die einzelnen Ausstellungsorte und man kommt man in unbekannte Ecken Lüttichs, die an sich schon ihren Reiz haben. Gleichzeitig wird hier der Gedanke des Netzwerkes, des gemeinsamen Bespielens mit Kunst besonders vielfältig eingelöst.

Bei unserem Besuch waren es eine zauberhafte Hinterhofgalerie und eine ehemalige Autowerkstatt der Kriminalpolizei. Allein die Streifzüge durch die unterschiedlichen Viertel der Stadt haben ihre Reiz. Und ich freue mich schon riesig auf den nächsten Besuch, bei dem ich noch etwas mehr davon abklappern kann.

Galerie Les Drapiers

Ein besonderer Ort und eine schöne Beziehungsarbeit mit Künstler:innen. Wir wurden sehr freundlich von Claire Williams empfangen, die uns die Galeristin als ihre ehemalige Textillehrerin vorstellte. Die Künstlerin ist hier mit ihrer Ausstellung „Intangible“ präsent, einer Werkreihe aus dem künstlerischen Langzeit-Projekt Les Æthers, das sie gemeinsam mit Debora Levyh betreibt.

Von einer Installation, die die neuronalen Tätigkeiten visuell übersetzt bis zu KI-Anwendungen, in denen berühmte Medien zum Sprechen gebracht werden – es geht um diesen Zwischenbereich des Nicht-Sichtbaren, Immateriellen und auch Spirituellen. Wie eine Art Feldforschung setzt sich mit allen Phänomenen auseinander, die zunächst keine erkennbare Materie mitbringen. Aber durch die Idee des Interfaces schafft Claire Williams Übersetzungsleistungen und holt das Ungreifbare in unsere Welt.

Noch ein Wort zu der Galerie, die sich in mehrere Räume und einen entzückenden Hinterhof teilt. Zum Konzept der Galerie gehört auch die Idee von Artists in Residence (es gibt eine Künstlerwohnung hier). Eine Bibliothek mit Schwerpunkt Textilkunst vervollständigt den Ort! Unbedingte Hingeh-Empfehlung! Die Ausstellung von Williams ist dort bis zum 11. Mai zu sehen.

  • Die Künstlerin Clair Williams erklärt ihre Arbeit
  • Ein Tisch, auf dem mehrere Glasgefäße unterschiedlicher Formen stehen, die alle blau leuchten.
  • Foto einer älteren Frau, das bearbeitet wirkt.

New Space

In dieser ehemaligen Garage mit sehr spannender Vergangenheit hat Kurator Marc-Emmanuel Mélon die Ausstellung « L’expérience Vidéographie » inszeniert. In einzelnen Wohnzimmer-Nachbauten laufen alte Röhrenfernseher mit Sendungen, die im RTBF zwischen 1976 und 1986 gezeigt wurden. Unter anderem entdeckten wir dort auch ein Video mit Katharina Thalbach. Beim Setzen in die alten Sofas aus genau dieser Zeit ploppten natürlich die Fernseherfahrungen aus meiner Jugend sofort mit auf – was wahrscheinlich auch vom Kurator intendiert war.

Der New Space befindet sich in einem spannenden Viertel (Saint Léonard), das gerade auch im Umbruch ist. Der Ausstellungsraum war früher die Garage der Kriminalpolizei und wird kollektiv bespielt. So, wie ich es verstanden habe, wird dieser Kunstort auch von der Stadt Lüttich gefördert. Es braucht solche speziellen Orte und auch die Unterstützung der Projekte, die dort die Stadtentwicklung künstlerisch befeuern.

Schnell mal eben nach Lüttich

Es ist immer wieder ein Aha-Moment, wenn man in Köln in den Zug steigt und nur eine Stunde später im Bahnhof von Lüttich ausgespuckt wird. Natürlich ist der Empfang dort nicht zuletzt wegen der Architektur-Landmarke von Calatrava ein Wow-Moment. Derzeit noch mit einer Installation des Konzept-Künstlers Daniel Buren farbig gestaltet – das kommt aber im Sommer wohl wieder weg. Was ich gut finde, denn die pure Architektur hat doch nochmal mehr Wucht!

Bislang fuhr ich mit dem Thalys ja schwuppdiwupp über Aachen auf dem Weg nach Paris die Strecke und jetzt heißt der Thalys seit Neuestem Eurostar. Das passt doch! Eigentlich bleibt alles beim Alten und man findet den Thalys-Schriftzug auch hin und wieder noch im Zug. Wir wurden von Eurostar auch netterweise in die erste Klasse eingeladen und bekamen noch ein schönes Frühstück auf dem Weg serviert. Kann man durchaus machen und wir danken recht herzlich dafür.

Wie immer gilt der Dank an dieser Stelle auch Barbara Buchholz und ihrem Team bei Belgien Tourismus Wallonie, die die Pressereise organisierten und uns dazu eingeladen haben. (Soviel zum Transparenz-Hinweis).

Bis zum 1. Juni habt ihr noch Gelegenheit, nach Lüttich zu reisen und euch die fantastische Biennale de L’Image Possible anzusehen. Alle notwendigen Infos dazu findet ihr auf der Webseite. Auf der Seite werden die Veranstaltungsangebote laufend aktualisiert. Da sind auch ein paar Highlights dabei, wie zum Beispiel die DJ-Nacht (Termin kommt noch).

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Kommentare

Eine Antwort zu „Das mögliche Bild. Besuch einer großartigen Biennale in Lüttich“

  1. […] bitte auch, was Anke | Kulturtussi über unseren Ausflug geschrieben […]

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