Bergkamen und die Kunst im öffentlichen Raum

Bergkamen ist eine Stadt am nord-östlichen Zipfel des Ruhrgebietes und in den sechziger Jahren als Retortenstadt aus sechs umliegenden Gemeinden entstanden. Inklusive „neuer Mitte“, in die das postmoderne Rathaus als eigenwilliger Bau mit Spiegelglasfenstern hineingesetzt wurde. Jetzt stehe ich vor eben diesem Rathaus und sinniere darüber nach, wie perfekt doch die Arbeit MH06 von Achim Riethmann sich in das Ensemble fügt. Sie wurde dort jüngst als „Stadtbesetzung“ installiert und soll nun Impulse setzen, die auch die Interaktion mit der Bevölkerung anregen möchten. Auf Einladung der Kulturreferentin Simone Schmidt-Apel bin ich nach Bergkamen gereist und habe mich mit einem Stadtführer getroffen, der mir einige spannende Dinge erzählt hat. Und wer wissen möchte, warum man Bergkamen unbedingt auf der Landkarte besonderer Kunstorte verzeichnen sollte, der liest hier meinen Bericht.

Klaus Holzer erwartet mich schon vor dem Rathaus und fragt, ob wir ein bisschen Zeit mitgebracht hätten. Klar, haben wir! Doch zunächst möchte ich das in der Sonne glänzende Objekt MH06 betrachten, das auf der Wiese vor dem Rathaus steht. An einem Pfeiler des Rathauses in Sichtweite hängt auf gelbem Grund die Aufforderung: Anfassen erlaubt. Das hat anscheinend jemand zu wörtlich genommen  –  immerhin haben aufmerksame Kunstliebhaber den Sticker vom Motorradhelm schnell wieder entfernt. Denn die glänzende Oberfläche des überdimensionalen Helmes ist schon ein ästhetischer Hingucker bei der Arbeit von Achim Riethmann, dem man sich nicht entziehen kann. Ich bin fasziniert, wie perfekt die farbliche Korrespondenz mit der Fassade des Rathauses harmoniert. So ist die Stadtbesetzung immerhin mit einem kleinen Heimvorteil angetreten – der Helm matcht das Rathaus! Als wäre er immer schon hier gewesen. So nimmt man ihn auch nicht als Fremdkörper oder Störfaktor wahr. So kann man sich in Ruhe mit der Skulptur beschäftigen und ist gleich dabei, sich räumlich zu diesem überlebensgroßen Objekt zu positionieren. Das Spiel mit den Dimensionen ist Teil künstlerischer Auseinandersetzungen und funktioniert mit solchen Skulpturen wunderbar. Achim Riethmann setzt ein Statement in die urbane Landschaft, das mich anspricht.

Zitat

„Was geht? Kunst in Bewegung“  ist der Titel des Stadtbesetzungsprojekts 2020, das die Stadt Bergkamen in Kooperation mit dem Kultursekretariat NRW Gütersloh und weiteren  Mitgliedsstädten durchführt. Dabei steht 2020 die Mobilität im Vordergrund, die insbesondere für Städte und Gemeinden in ländlich geprägten Regionen eine besondere Rolle spielt. Das Stadtbesetzungsprojekt zielt 2020 darauf, durch einen künstlerischen Impuls im öffentlichen Raum den Stadtraum neu zu befragen, Impulse zum Reflektieren, Erlebbarmachen und Möglichkeiten zum unmittelbaren Austausch mit dem Publikum zu geben.

Auf dieser direkten Ebene funktioniert der Motoradhelm sicher sehr gut. Er verbindet sich mit der Lebenswirklichkeit vieler Menschen, die hier im Stadtzentrum vorbeifahren. Mich nimmt der Helm, dieses glänzende Objekt, aber auch mit in eine ganz andere Gedankenwelt. Er hat für mich eher etwas von Science-Fiction, wirkt trotz seiner Gegenständlichkeit abstrakt. Ich muss an die monumentalen Figuren der Osterinseln denken. Waren sie nicht auch aus einer anderen Welt? Durch die Vereinzelung und den ungewöhnlichen Kontext, in den der MH06 auf den grünen Rasen vor das Bergkamener Rathaus gesetzt wurde, entsteht etwas Neues. Und plötzlich macht auch die Erdpyramide Sinn, die gleich daneben von Timm Ulrichs bereist 1978 installiert wurde. Kunst entsteht ja immer im Kopf des Betrachters. Und ich schätze es sehr, wenn die Gedankenmaschinerie in Gang gesetzt wird. Es wird nicht das einzige Mal sein bei diesem Besuch in Bergkamen, wo das passiert.

Wie kommt das, dass hier Tief im Westen im ehemaligen Kohleabbaugebiet eine solche Anhäufung von Kunst zu sehen ist, frage ich Herrn Holzer. Er erzählt mir vom legendären Bilder Basar Bergkamen. Und vom noch legendäreren Dieter Treeck, den die zukunftsorientierten Bergkamener als Kulturdezernent in die moderne Stadt holten. Der Schriftsteller wirkte von 1970 bis 1999 vor Ort und setzte deutschlandweit beachtete Impulse im Bereich einer bürgernahen Kulturvermittlung. Unter anderem mit der ersten kommunalen Galerie Deutschlands, der Sohle 1. Und eben mit jenem Bilder Basar, der unter dem Motto entstand: Wenn der Kumpel nicht zur Kunst kommt, dann kommt eben die Kunst zum Kumpel! Ich höre gebannt zu, wie Herr Holzer von damals erzählt, als sich hier die Künstler und die Kumpels gegenseitig beim Bierchen zischen und beim „Quarzen“ überboten haben, über Kunst stritten und die Szene ständig in Bewegung war. Ich verfalle wieder in mein nostalgisches Schwärmen über diese Zeiten, in der sehr viel mehr Partizipation und gelebte Demokratie im Kulturbereich möglich war als heutzutage. Und erfreue mich an der Schilderung einer Tauschaktion, in der die Kumpel ihren röhrenden Hirschen gegen zeitgenössische Grafik eintauschen konnten.

Nach diesem äußerst belebenden Ausflug in frühere Zeiten, blicken wir aber wieder auf das Bergkamen von heute und ich erfahre, dass die Stadt sich auch im Hinblick auf den Strukturwandel im Ruhrgebiet einen Namen gemacht hat. Biodiversität und Klimawandel, zukunftsorientierte Wohnprojekte – all das gibt es hier, seit die Kohleförderung 2001 eingestellt wurde. Immerhin war Bergkamen mal die größte Bergbaustadt Europas!!!

Jetzt also die Kunst im öffentlichen Raum als Attraktion! Natürlich gab es einen enormen Schub im Jahr 2010, dem Kulturhauptstadtjahre, in dem einige Skulpturen hier installiert wurden. Unter anderem auch der Impuls Bergkamen von Maik und Dirk Löbbert, die eine 33 Meter hohe Licht-Stele auf eine Halde gesetzt haben, die in der Dunkelheit weit in die Landschaft leuchtet. Bergkamen ist eine Station des Hellweg – Lichtwegs – immerhin ist das wunderbare Lichtzentrum Unna auch gleich nebenan! Auch die Neu-Interpretation der Stadttore, die Bergkamen nie hatte, gefällt mir. Die Löbberts haben vier davon als Maßstäbe neu interpretiert. Folgt man deren Neigungswinkeln, so verbinden sie sich über der Stadtmitte zu einem imaginären Dach über Bergkamen.

So kamen auch schon vor 2010 interessante Kunstprojekte hier zustande und Herr Holzer nimmt uns mit einmal quer durch die Innenstadt mit, um zu einer ganz besonderen Arbeit zu gelangen. Wir besuchen den „subport bergkamen“, den Rochus Aust hier im Jahre 2005 angelegt hat. Der Musiker  und Medienkünstler inszeniert in seinen Arbeiten öffentliche Räume mit Klanginstallationen. Häufig spielt das Thema Verkehr der Zukunft eine zentrale Rolle. Hier in Bergkamen finden wir uns also in einen unterirdischen Flughafen ein. Insgesamt 14 Gullydeckel sind mit einem stilisierten Propeller versehen und eigentlich gehört zu der Arbeit auch der unverwechselbare Sound der Flugzeugmotoren, den ich leider gerade bei meinem Besuch nicht hören konnte. Aber ich war dennoch begeistert von dieser Installation, die auf Imagination setzt und so eine zweite künstlerische Ebene unter der Stadt entstehen lässt, die Raum für viele Interpretationen bietet.

Erweitert wird diese Idee noch durch die Netzkarte, in der Aust mittels einer Lichtinstallation die Entfernungen großer Städte von Bergkamen ausleuchtet – je nachdem, mit welchem Verkehrsmittel man sie erreichen möchte. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob der Weg nach Iserlohn mit dem Fahrrad oder dem Motorrad zurückgelegt werden sollte. Aber immerhin schlagen wir so einen wunderbaren Bogen zum Ausgangspunkt unserer Tour.

Vielleicht hat gerade jemand aus der Zukunft den Weg nach Bergkamen gefunden und eben seinen Motorradhelm abgenommen. Und jetzt fällt mir auch die Erdpyramide wieder ein! Die Idee, gedanklich in die Tiefe zu gehen macht natürlich auch Sinn in dieser Stadt, die so lange von der Realität „unter Tage“ geprägt war. Und gleichsam, um diesem Dunkel da unten einen Gegenentwurf zu präsentieren, hat sich vielleicht auch genau hier die Lichtkunst in besonderer Weise etabliert.

Kehren wir am Ende noch einmal zurück zu Achim Riethmann und seinem MH06. Auch hier ist es das Konzept der Kunst, etwas nicht Vorhandenes einzubeziehen. Während man den Helm betrachtet, fragt man unwillkürlich nach dem, was fehlt. Die Person, zu der dieser Helm gehört. Der Grund, warum er hier abgelegt wurde. All diese Leerstellen lassen sich mit eigenen Assoziationen befüllen. Und so wird das Objekt aufgeladen mit möglichen Geschichten, die die Betrachterinnen und Betrachter mitbringen. Und dazu können selbstverständlich auch die von Motorradfahrerinnen und -fahrern gehören. Die natürlich genau wissen, wie man sich unter so einem Helm fühlen muss.

Die Installation von MH06 wird noch ergänzt durch weitere Motoradhelme, die auf Stelen montiert eine kleine Armee in der nahen Galerie „sohle 1“ aufmarschieren lassen und die aus der Sammlung von Florian Peters-Messer stammen. Der Sammler wird übrigens mit dem Künstler zu einem Gespräch am 19.09. um 12 Uhr vor Ort sein. Bis Ende September kann man MH06 noch vor dem Bergkamener Rathaus besuchen. Und ich kann eine unterhaltsame und informative Führung mit Klaus Holzer nur empfehlen.

Dieser Beitrag entstand als bezahlte Kooperation mit dem Kulturreferat Bergkamen.

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