Nach der Jahrhundertwende brach ein neues Zeitalter heran – auch in der Kunst. Während der deutsche Kaiser noch von violetten Schweinen redete (er meinte die Impressionisten, die für ihn abnorm sind), wusste die Berliner Secession bereits, welche Wege es künstlerisch gesehen einzuschlagen galt. Gerade trat Käthe Kollwitz dieser modernen Bewegung bei. Da war sie knapp über 30 Jahre alt, Mutter zweier süßer Söhne und Frau eines angesehenen Arztes. Aber sie war auch bereits eine vielversprechende Künstlerin: mit ihrer Folge des Weberaufstandes hatte sie mehr als nur einen Achtungserfolg errungen. Und nun machte sich Käthe Kollwitz 1901 auf nach Paris – die Stadt der Verheißung für jeden modernen Künstler in dieser Zeit. Ihr Aufenthalt war ein kurzer Spontanbesuch, der aber in ihr den Wunsch weckte, wiederzukommen. Das tat sie 1904 – und sie blieb zwei Monate. Wie sehr sie von den avantgardistischen Strömungen in der Kunstmetropole angesteckt wurde, zeigt eine wunderbare Ausstellung im Käthe Kollwitz Museum, die noch bis einschließlich 16. Januar 2011 in Köln zu sehen sein wird.
Käthe Kollwitz, Selbstbildnis en face, 1904 ?, Kreide- und Pinsellithographie vom rotbraunen Zeichenstein mit einem blauen Tonstein für die Gesichtsrahmung und einem ockerfarbenen Tonstein für den Hintergrund, auf braungelbem, stark strukturierten Strohkarton, 44/43 × 33,4/32,5 cm, Kn 85 I A, Privatbesitz Schweiz, Courtesy Galerie Kornfeld, Bern
In Paris hatte man damals die Möglichkeit, sich innerhalb kürzester Zeit mit einem kleinen Spaziergang zu den wichtigsten Galeristen einen umfassenden Überblick über die Vertreter der Moderne zu machen: bei Durand-Ruel sah man die Impressionisten, bei Vollard gab es Cézanne, Gauguin und auch den jungen Picasso und Bernheim Jeune vertrat Bonnard und Vuillard.
Käthe Kollwitz hatte bereits einen eigenen Weg eingeschlagen und sich der „modernen“ Themen jenseits jeglicher Idealisierung oder mythologischer Bezüge angenommen. Ihre Arbeiter, Aufständische und Porträtstudien zeigten einen ganz eigenen Stil. Die Begegnung mit den neuen Ideen der französischen Kollegen fiel bei ihr damals auf einen äußerst fruchtbaren Boden.
Pablo Picasso, Brutale Umarmung (Frenzy oder La Bête), 1900, Pastell auf Papier, 47,5 × 38,5 cm, Privatbesitz
Dieses Bild kaufte Käthe Kollwitz damals in Paris. Da es nicht in ihrem Nachlass zu finden war, galt es lange als verschwunden. Es ist ein Verdienst der Kölner Ausstellung, dass man rekonstruieren konnte, wie sehr Käthe Kollwitz sich für die zum Teil ganz neuen Bildmotive ihrer Kollegen interessierte. „La bête“ ist ein gewagtes Bild, das ein Paar in einer heftigen Umarmung zeigt, deren Derbheit so gar nichts mit den romantischen Liebespaaren der Kunstgeschichte gemeinsam hat. Käthe Kollwitz begeisterte sich für die heftige Geste und verarbeitete diese wahrscheinlich auch ähnlich in eigenen Darstellungen von Liebes-Szenen.
Käthe Kollwitz, Liebespaar, stehend, um 1904, Kohle auf Ingres-Bütten, 63,3 × 48 cm, NT 284, Graphische Sammlung, Staatsgalerie Stuttgart
Paris war für eine Frau um die Jahrhundertwende Schock und Offenbarung zugleich. Sich frei bewegen, in Kellerlokalen unterwegs sein, versteckte Ateliers aufsuchen, sich amüsieren, Akt zeichnen, tanzen, Kollegen treffen – es muss wirklich aufregend gewesen sein. Besonders die versteckten Ecken der Pariser Bohème hatten es der Kollwitz und vielen anderen Künstlern angetan. Dort traf man auf die ungeschminkte Wahrheit der Großstadt, auf das wahre Leben, das auch nicht unbedingt schön war. „Im Viertel der Hallen, im Ange Gabriel, in dem Caveau des Innocents saßen die jungen Mörder, Kinder, trunken von Liebe und Eifersucht, während draußen die Türen schlugen, in der Finsternis Schreie wie von Sterbenden tönten, Pfiffe und Pferdewiehern. Dann kam ein neuer Tag. Auf dem Quai aux Fleurs breitete man Blumen aus und in der Morgue bahrte man die Toten auf.“ (Wilhelm Uhde) Käthe Kollwitz zeigt uns eines dieser legendären Kellerlokale, das sie an ihre frühen Arbeiten mit Wirtshausszenen erinnert.
Käthe Kollwitz, Pariser Kellerlokal, 1904,farbige Kreiden auf ocker-farbenem Canson-Zeichenkarton, 46,8 × 57,8 cm, NT (277a),Käthe Kollwitz Museum Köln
Neben den ungewöhnlichen Orten und der Champagnerluft des Bohème-Lebens war aber vor allem auch die freizügige Aktmalerei eine einschneidende Erfahrung für eine Künstlerin zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Frei von jeglicher „Verkleidung“ und „Verklärung“ konnte man ehrliche und ungeschönte Körper malen, deren Besitzerinnen meist aus den Vergnügungsvierteln stammten. Der moderne Akt war geboren. Natürliche Haltungen, intime Momentaufnahmen – das gefiel Käthe Kollwitz und so übernimmt sie viele der typischen Beobachtungen der Impressionisten wie z.B. die bei Degas so beliebten Frauen bei der Toilette. Durch den weiblichen Blick der Künstlerin sind manche der Kollwitz-Akte noch authentischer.
Käthe Kollwitz, Weiblicher Rückenakt auf grünem Tuch, 1903, Kreide- und Pinsellithographie und Schabnadel vom schwarzbraunen Zeichenstein mit blauem und grünem Tonstein, mit Pastellkreide überarbeitet, auf Japan, 61 × 46 cm, Kn 76 I, Kunsthalle Bremen – Kupferstichkabinett – Der Kunstverein in Bremen
Neben den Entdeckungen auf dem Gebiet der Skulptur und der beeindruckenden Begegnung mit Rodin brachte Käthe Kollwitz aber vor allem die Entdeckung der Farbigkeit aus Paris heim nach Berlin. Und die farbigen Blätter, die in dieser und der Folgezeit entstanden sind, zählen zu den modernsten Blättern der deutschen Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Denn Käthe Kollwitz stellt sich damit bewusst gegen das Diktum, in der Graphik zähle allein das Schwarzweiß. Die Farbe hatte in Paris die Kunst erobert und gewann immer mehr Bedeutung als künstlerisches Mittel. Käthe Kollwitz, die später wieder mehr zum kontrastreichen Schwarzweiß zurückkehrte, feierte die Entdeckung der farbigen Welt mit mehreren experimentellen Drucken. Ihre 1901 entstandene Frau mit Orange gehört zum den faszinierenden Blättern, mit denen sie verschiedene Zustände ausprobierte. Eine kombinierte Pinsel-Lithographie mit Aquatinta-Radierung, die sie mit unterschiedlichen Tonsteinen gedruckt hat. Die Version aus der Kunstsammlung Dresden ist zusätzlich mit einer rosa eingefärbten Tonplatte wiedergegeben. Außerdem arbeitete die Künstlerin mit unterschiedlichen Papieren – hier mit einem cremefarbenen, das auf einen grauvioletten, gerippten Büttenkarton aufgelegt wurde. Weitere Zustände dieses spannenden Druckes gibt es im Käthe Kollwitz Museum (etwas mit Kohle überarbeitet), aus privatem Besitz (auf graubraunem Bütten) und im Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen. Interessant ist auch, wie Käthe Kollwitz neben der delikaten Farbgebung mit dem äußerst modernen Motiv des elektrischen Lichtes spielt – auch dies sicherlich eine Idee, die ihr in der französischen Metropole eingegeben wurde. Für die Künstlerin waren diese beiden Aufenthalte zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Schatz an Anregungen für ihr weiteres Schaffen. Sie hatte sich fest vorgenommen, wieder einmal nach Paris zu reisen. Doch die Ereignisse der folgenden Jahre machten dies nicht möglich und so zehrte sie von den Erinnerungen dieser anregenden Zeit.
Käthe Kollwitz, Frau mit Orange, 1901, Pinsellithographie mit orange eingefärbtem Tonstein und Radierung (Aquatinta, Reservage und Kaltnadel), vermutlich mit zusätzlich rosa eingefärbter Tonplatte, auf cremefarbenem Papier, aufgelegt auf grauviolettem, gerippten Büttenkarton, 23,1 × 11,2 cm, Kn 56 II, Kupferstich-Kabinett, Staatliche Kunstsammlungen Dresden
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