Jene Einheit von Kunst und Leben, die für die Ästhetik des Jugendstils eine zentrale Bedeutung hatte, führte zwangsläufig zum Gedanken des Gesamtkunstwerks. Bereits in der Romantik wurde der Grundstein für diese Idee gelegt, in der alle Künste miteinander zu einem großen Ganzen verbunden werden sollten. Philipp Otto Runge führte diese Vorstellung in seiner religiös-mystischen Weltauffassung zu einem Raumerlebnis aus, in welchem er alle Künste miteinander vereinen wollte. Richard Wagner formulierte den Begriff vom „Kunstwerk der Zukunft“, in welchem der Künstler zum Schöpfer eines eigenen Kosmos werden sollte. Synästhetisches Erleben schließlich wurde zu einem großen Thema der symbolistischen Malerei.
Entwurf für ein modernes Leben
Der Verleger Alexander Koch hatte großen Anteil am Entstehen der Künstlerkolonie Mathildenhöhe. über die hier auch noch berichtet werden soll. Seine Bestätigung neuer Formen des Kunstgewerbes, die er vor allem ab 1890 in seiner Kunstzeitschrift Innendekoration und später in der Kunst und Dekoration“ propagierte, beeinflusste den hessischen Großherzog deutlich. Bereits 1897 ließ dieser einige Räume seines Schlosses im „neuen“ Stil einrichten. Hierzu berief er die Engländer Mackay Hugh Scott Baillie und Charles Robert Ashbee nach Darmstadt, die sich begeistert daran machten, ein Empfangszimmer neu zu gestalten. Als dann Alexander Koch 1901 einen Wettbewerb in seiner Zeitschrift Kunst und Dekoration ausschrieb, war Scott Baillie mit von der Partie und konnte sogar den ersten Preis gewinnen. Der eigentliche Gewinner der Ausschreibung, die die Gestaltung eines „großzügigen Hauses eines Kunstfreundes im modernen Stil“ zum Thema hatte, war allerdings der Schotte Charles Rennie Mackintosh. Leider reichte er seinen Beitrag, den er gemeinsam mit seiner Frau Margaret Macdonald erarbeitet hatte, nicht fristgerecht ein, so dass er nicht mehr regulär gewertet werden konnte. Dennoch erregte die Konzeption ein so großes Aufsehen, dass man ihr einen Sonderpreis verlieh.
Das Konzept, ein Haus ohne einen tatsächlichen Auftraggeber zu entwerfen, hatte den Vorteil, dass die Entwürfe mit einer großen kreativen Freiheit erstellt werden konnten. Die Vorstellung, all dieses für einen Kunstliebhaber zu tun, implizierte natürlich ein hohes Niveau in der ästhetischen Ausrichtung jedes Details. Mackintosh, der schon bei der Secession in Wien ausgestellt hatte, bestach durch seinen konsequent strengen Stil, der im Vergleich zu den Art-Nouveau-Innenausstattungen, an denen man sich mittlerweile ein wenig satt gesehen hatte, unglaublich modern wirkte. Die Gestaltung der Räume, die er für den Kunstfreund entworfen hatte, stellte Mackintosh ganz in den Dienst der jeweiligen thematischen Nutzung. Im Musikzimmer integrierte er etwa das obligatorische Klavier ganz in das dekorative Gesamtgefüge. Die harmonische gestalterische Einheit sämtlicher Innenausstattungsdetails zeigte sich im Entwurf von Mackintosh in nahezu perfekter Weise ausgearbeitet.
Die Villa als Gesamtkunstwerk ist eine Weiterführung der Künstlerresidenz wie Morris sie mit seinem Red House vorgegeben hatte. Auch bei van de Velde ist dieser Ansatz zunächst in den eigenen Häusern entwickelt worden. Später hat er ihn zur Vollendung gebracht zum Beispiel in der Villa Esche, wo er bis hin zur Pfeife des Hausherrn alles unter ein ästhetisches Gesamtkonzept stellte. Auch Mackintosh hat diesen Willen zum Gesamtkunstwerk in seinem eigenen Wohnhaus umgesetzt: dem Hill House. Hier sind die Einrichtungsgegenstände perfekt auf die jeweiligen Raumsituationen abgestimmt, ein Konzept, das Mackintosh auch in seinen berühmten Ausstattungen für eine Kette Glasgower Teeläden angewandt hatte. Dass man die Möbeldesigns von Mackintosh heute losgelöst von der Idee des Gesamtkunstwerkes rezipiert, ist eine Entwicklung, die sicher nicht im Sinne des Erfinders ist. Fast mag man die 1989 in Angriff genommene konkrete Ausführung des Hauses für einen Kunstfreund rund einhundert Jahre nach der Planung als eine Art Wiedergutmachung sehen. Die Initiative Glasgower Anhänger Mackintoshs hatte jedoch mit der Schwierigkeit zu kämpfen, dass dieser das Haus lediglich in Form von Aquarellen und Federzeichnungen überliefert hat – es gab keine Baupläne, auf die man zurückgreifen konnte.
Kabarett Fledermaus
Vor allem im Bereich des Theaters konnte sich die Vorstellung vom Gesamtkunstwerk entfalten. Nicht von ungefähr steuerten zahlreiche Künstler der Moderne gedankliche Beiträge zur Reform des Theaters bei oder beteiligten sich an Inszenierungs- bzw. Ausstattungskonzepten. Besonders im Umfeld der Wiener Secession waren viele Künstler im Rahmen von Gesamtkunstwerk-Projekten im Theaterbereich aktiv. Malerei, Grafik, Bildhauerei und Literatur griffen besonders in einem Projekt ineinander, das weit über die Grenzen der Stadt hinaus berühmt war. Das Theater und Kabarett Fledermaus wurde am 19. Oktober 1907 mit einem opulenten Programm für rund 300 Gäste eröffnet. Marc Henry, der schon in München das Kabarett Elf Scharfrichter gegründet hatte, führte als Conférencier durchs Programm, und bereits im Vorfeld hatte man das ästhetische Programm des neuen Projektes verbreitet. Darin wurde angekündigt: „Alle Sinne sollen hier gleichzeitig zum mindesten Anregungen, wenn möglich auch Befriedigung finden und keine von den Künsten ist ausgeschlossen, um mit den ihr zukommenden Mitteln ihr Teil zu der beabsichtigten Gesamtwirkung beizutragen. […] so gestaltet, dass ohne Verwendung äußerer Mittel die sogenannte ‚ideale Entfernung‘ der Bühne aufgehoben und diese für die Empfindung des Zuhörers wie mitten in den Zuschauerraum, ins unmittelbare Leben hinein gesetzt erscheint.“
Im Impressum der kleinen Broschüre wird deutlich, wer noch alles hinter diesem ehrgeizigen Projekt steckte. Gebaut wurde das Theater von Josef Hoffmann, im Bereich der Dekoration unterstützt durch Mitarbeiter wie Gustav Klimt, Oskar Kokoschka, Berthold Löffler und Emil Orlik. Zu den literarischen Mitarbeitern zählten unter anderem Peter Altenberg und Hermann Bahr, zu den musikalischen Leonhard Bulmans und Karl Scherber. Da als spiritus rector die Wiener Werkstätte das Gesamtprojekt aus der Taufe gehoben hatte, war der Direktor des Theaters deren Leiter Fritz Waerndorfer. Die gesamte Ausstattung, die bis in letzte Details wie die Ansteckbroschen für die Servicekräfte von der Wiener Werkstätte gestaltet wurde, ist dem erklärten Ziel der Macher unterworfen: „Wir haben Gewicht darauf gelegt, alle Einzelheiten des kleinen Hauses mit Peinlichkeit im Sinne einer ehrlichen, vom Gesichtspunkt des Organischen geleiteten Kunstübung durchzubilden und unsere künstlerische Aufmerksamkeit auch dem Unscheinbarsten mit gleicher Liebe wie dem Großen zuzuwenden […] Durch das Zusammenwirken aller dieser Elemente hoffen wir geschaffen zu haben, was eingangs erwähnt wurde: eine Stätte, die der Kultur der Unterhaltung dient.“ Bis zum April 1913 spielte das Kabarett Fledermaus eine zentrale Rolle im kulturellen Leben der österreichischen Hauptstadt. Durch zahlreiche Wirren in der Leitung geriet vor allem die kaufmännische Seite des Unternehmens in unruhiges Fahrwasser, und so wandelte man das immer erfolglosere Kabarett in eine Singspielhalle um und unterwarf den Raum zahlreichen Umgestaltungen, so dass das ursprüngliche dekorative Konzept zerschlagen wurde.
Palais Stoclet
Die Beschäftigung mit einem Konzept, in welchem Architektur und Innenausstattung zu einer ästhetischen Einheit gelangen, ist ein Hauptthema vieler Architekten des Jugendstils. Berühmte Beispiele sind von Brüssel bis Barcelona zu verzeichnen. Jedoch hat die Wiener Werkstätte nicht nur die äußere Hülle ihrem ästhetischen Wirken unterzogen, sondern auch in der Zusammenarbeit mit anderen Künsten zu einer gedanklichen Durchdringung neuer Raumkonzepte geführt. Ein Haus, das vorbildlich eine ästhetische Gestaltung des privaten Lebens darstellte, ist das Palais Stoclet in Brüssel. Das Stadtpalais wurde von Josef Hoffmann als Mitarbeiter der Wiener Werkstätte und im Auftrag des belgischen Fabrikanten Adolphe Stoclet in den Jahren 1905 bis 1911 errichtet. Der gesellschaftlichen Stellung seiner kunstsinnigen Auftraggeber entsprechend hatte Hoffmann nicht nur jedes kleinste Detail der Innenausstattung in ein Gesamtkonzept integriert, sondern auch repräsentative Kommunikationsräume geschaffen. Gustav Klimt ergänzte die Innenausstattung mit einem ästhetischen Programm, welches den Ansprüchen des Ehepaars Stoclet deutlich entsprochen haben muss. Einer Theaterinszenierung gleich hatte Gustav Klimt mit dem von Hoffmann im kubischen Gleichmaß von sechs mal zwölf Metern konzipierten Speisesaal den Höhepunkt des Hauses gestaltet. Seine Entwürfe sahen einen Fries vor, der in einer ungewöhnlichen Verschmelzung von Ornamenten und Figuren auf zwei einander gegenüberliegenden Mosaiken von jeweils sieben mal zwei Meter jeden in den Bann ziehen sollte, der das Zimmer betrat. Im Stoclet-Fries fanden sich viele Motive wieder, die Klimt auch schon in den Jahren zuvor beschäftigt hatten. Hier ist die Umarmung der Kuss, der in seinem Œuvre eine zentrale Bedeutung einnimmt und welchen er bereits im Beethoven-Fries zur Ausführung gebracht hatte. Außergewöhnlich erscheint die ornamentale Gestaltung besonders in der Abstraktion, die sich in der Figur eines „Ritters“ manifestiert, der in gänzlich ungegenständlicher Manier zentral in der Blickachse zu sehen ist, wenn man den Saal betritt. Er erscheint als Hüter der Kunst, die das über allem stehende Ideal ist, und symbolisiert noch einmal eindrucksvoll das Gesamtthema des Speisesaals.
Die Beethoven-Ausstellung
Von Anfang an hatten die Secessionisten deutlich gemacht, dass ihnen eine Vermittlung der neuen Kunst am Herzen lag,. So luden sie nicht nur ausländische Künstler ein, sondern entwickelten auch thematisch strukturierte und didaktisch aufbereitete Ausstellungen. Innerhalb der im Jahrestakt stattfindenden Präsentationen im eigens zu diesem Zweck entworfenen Secessionsgebäude ragte eine Ausstellung heraus: die Beethoven-Ausstellung im Jahr 1902. Am 15. April eröffnete man die mit Spannung erwartete Schau, die sich thematisch um die berühmte neunte Symphonie Ludwig van Beethovens drehte. Im Zentrum der Ausstellung stand eine von Max Klinger geschaffene Plastik des großen Musikers. Josef Hoffmann leitete das Gesamtprojekt, an welchem 21 Künstler mitgewirkt hatten. Das erklärte Ziel der Ausstellung war es, eine Einheit von Raumkonzept, Wandmalerei und Plastik zu schaffen. Ergänzend erstellte man einen kostbaren bibliophilen Ausstellungskatalog, und selbstverständlich gehörte auch die Aufführung der Symphonie No. 9 zum Ausstellungskonzept. Diese durfte natürlich von keinem Geringeren als von Gustav Mahler dirigiert werden, der so seinen Beitrag zum Gesamtkunstwerk lieferte.
Die Wände des Secessionsgebäudes waren einem künstlerischen Freskenprogramm unterworfen, an welchem Alfred Roller und Ferdinand Andri beteiligt waren. Da es galt, ein unvergleichliches Gesamtkunstwerk zu erstellen, kam es nicht auf eine demokratische Verteilung der Beiträge unter den Secessionsmitgliedern an, und so erhielt Gustav Klimt allein drei große Wandflächen zur Gestaltung. Er verzierte sie mit einem Fries, der alles bisher Gekannte in den Schatten stellte. Von links nach rechts lesbar erschuf Klimt einen Bilderreigen, der in rhythmischer Abfolge und gegliedert mittels freier Flächen eine Umsetzung der musikalischen Vorlage der neunten Symphonie darstellte: Sehnsucht nach dem Glück, die Schwache Menschheit fleht den Wohlgerüsteten Starken an, Feindliche Gewalten (der Gigant Typhoeus, die drei Gorgonen), Krankheit, Wahnsinn, Tod, Wollust, Unkeuschheit, Unmäßigkeit und Nagender Kummer. Durch eine Unterbrechung in der rechten Wand konnte man einen Blick auf das „zentrale Heiligtum“ werfen, die Figur Klingers. Weiter geht es mit dem Chor der Engel bis hin zur Erlösung: Diesen Kuss der ganzen Welt. Und wieder steht die Kunst als versöhnliches Idealbild über allem.
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