Fat Facts – zwischen Sinn und Sinnlichkeit


Zentnerweise Zucker. Über den gesamten Platz an der Südseite von St. Aposteln verteilt ergeben die charakteristischen blau-weißen Tüten einen kleinen Parcours. Es ist kalt und irgendwie hat man Angst, dass es gleich anfängt zu regnen. Was für eine klebrige Pampe das geben würde… Ich bin zur Premiere der neuen Produktion von Angie Hiesl und Roland Kaiser an den Neumarkt gekommen. Und habe mich viel zu dünn angezogen. Ui, die Performance wird gut eine Stunde dauern, höre ich. Na dann. Mal gucken. Man kann ja früher gehen. Bin ich dann aber nicht. Und es hat sich gelohnt. Hier mein kleiner Bericht von der wunderbaren Produktion, die im Rahmen von Tanz NRW aufgeführt wurde.

Torsten Schierenbeck in seiner Rolle als Basketballtrainer – die er auch im wirklichen Leben ausübt!

Umhergehen. Zuhören. Zusehen. Annäherung.

„FAT FACTS stellt die Ästhetik der Üppigkeit in den Fokus.“ Und zwar geschieht dies im urbanen Raum mittels einer begehbaren Installation, die sich auf drei „Bühnen-Inseln“ abspielt. Schon wenige Minuten nach Beginn der parallelen Performances war klar, dass sich die Menge der Zuschauer aus dem Kreis auflösen würde. Kein Abstand ist einzuhalten. Man darf/soll umherwandern. Wo zieht es einen an, welchem Akteur will man länger zuhören? Das dauert eine Weile, eh sich das sortiert hat. Es braucht Zeit, sich einzulassen.

Eigentlich habe ich sofort eine Situation bzw. eine Figur gesehen, die mich besonders in den Bann gezogen hat. Die selbstbewusste Ása Ástardóttir trällert ein isländisches Liedchen und öffnet Zuckerpaket um Zuckerpaket. Ihre Erscheinung hat Star- und Sex-Appeal.

Doch erstmal wollte ich eine Runde drehen. Gar nicht so einfach mit den ganzen Leuten und den Zucker-Stolpersteinen. „Zucker ist böse“ kommt mir plötzlich in den Sinn. Dann drängen sich andere Worte in meine Gedanken. „Fette Kuh“ – „Lasst mich doch essen, was ich will“ – „Immerhin hast du ein schönes Gesicht“ „Wie dick ist dick?“. Stereotypen, Beleidigungen, Hilferufe? Kleine Megaphone liegen neben einzelnen Zuckerpäckchen und bilden eine Art Soundwolke um das Geschehen. Man wird immer mehr in die Installation hineingezogen. Ich entdecke weiß-rotes Absperrband, auf dem Worte wie „Zucker-Mafia“ geschrieben stehen. Zupp, das Band wird ein Stückchen weiter gezogen. Am Ende hängt ein Schal, der unablässig von einer Performerin produziert wird.

Siiri Annika Mälzer baut einen Wall aus Zucker um sich herum.

Installation. Performance. Tanz.

Bei Siiri Annika Mälzer gerät die Performance am deutlichsten in Richtung Tanz. Sie nimmt auf dem Zucker-Podest unterschiedliche Positionen ein, die wie Zeichen wirken. Mal erscheint sie wie eine Revolutionärin im Geiste der Pussy Riot, mal erinnert sie an eine Gekreuzigte. Das finde ich spannend. Wenn aus Alltagsszenen plötzlich ein Statement wird. Wenn das Beiläufige zum Bild wird, das sich mit dem kollektiven Gedächtnis mischt. Angie Hiesl ist dafür bekannt, dass in ihren Produktionen die Genres gemischt werden (site-specific work „Theatre | Dance | Performance | Installation“ heißt es auf ihrer Website) und sie sich mit Themen aus der Mitte der Gesellschaft heraus beschäftigt. Mit diesem interdisziplinären Ansatz geht sie dann hinaus in die Stadt und überrascht Passanten wie Kunstbetrachter. Und auch Pressemenschen, von denen eine ganz schön große Anzahl vor Ort waren. Ob ich denn mit völlig neuen Erkenntnissen nach Hause gehen würde, fragte mich einer von ihnen und hielt mir ein Mikro unter die Nase. Nein, das ist doch auch gar nicht das Ziel gewesen, sage ich.

Ása Ástardóttir nimmt ein Zuckerbad! „Ich bin ein großes Mädchen!“

Body-Shaming – nein danke!

Die Zuckerbadewannenmonologe haben mir am besten gefallen. Wie sich Ása da im Zucker rekelt, knallbunte Zuckerwatte nascht und frei von der Seele weg all die Problemzonen abhandelt, die das Thema so mit sich bringt, ist einfach großartig. Und natürlich darf auch der Exkurs zu Instagram nicht fehlen. Wo die Ástardóttir übrigens mit gut 2000 Abonennten gar nicht schlecht im Rennen ist. Und wo ja die schlimmsten Attacken besonders auf junge Frauen und ihr Körperbewusstsein geritten werden. Sehr gut, dass da mittlerweile mit diversen Aktionen gegengesteuert wird. #fürmehrrealitätaufinstagram

Tanz NRW

Ich muss gestehen, ich verfolge zu selten, was sich auf dem Gebiet des Tanzes alles tut. Und dass obwohl ich gerade die Entwicklungen des modernen Tanzes in seiner Nähe zur Performance besonders schätze. Vor allem im Dialog mit der bildenden Kunst habe ich da schon tolle Beispiele gesehen!

Noch bis zum 14. Mai gibt es in ganz Nordrhein-Westfalen die Gelegenheit sich auf Stand zu bringen. Die Tanzszene präsentiert sich hier an vielen Orten und es sind neben großen Namen – zu denen Angie Hiesl ja auch gehört – über einen Open Call auch weniger bekannte Talente am Start. Dazu gibt es Workshops, Gesprächsreihen und und und.

Weitere Infos unter: www.tanz-nrw-17.de

Was die weiteren Aufführungen von FAT FACTS angeht, so bin ich ein wenig verwirrt, denn im Programm von Tanz NRW stehen lediglich die drei Termine der letzten Woche und anscheinend ist in Köln auch schon wieder Schluss! Aber auf der Website der Angie Hiesl Produktion werden noch der 11./12. und 13. Mai aufgeführt. Von meiner Seite auf jeden Fall eine Hingeh-Empfehlung!

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