Weil ich gerade so im Schwung bin, wird auch die kommende Blog-Woche vom Lesefutter bestimmt. Den Anfang macht eine Publikation, die ich mit großer Neugier erwartet habe. Denn ich kenne die Arbeit der Autorinnen im Kunstmuseum Bonn und bin ein Fan der Angebote, die sie dort für Menschen mit Demenz entwickelt haben. Dass sich die Museen für diese Zielgruppe öffnen, ist eine sehr schöne Entwicklung der letzten Jahre. Mittlerweile gehört die Vermittlungsarbeit für diese Zielgruppe zu einem der am heißesten diskutierten Themen der deutschen Museumslandschaft.
Am Städelmuseum wird derzeit sogar an einer Studie zum Einfluss von Museumsbesuchen und künstlerischer Betätigung auf das emotionale Befinden von Menschen mit Demenz gearbeitet. Und das Lehmbruck-Museum initiiert ein Modellprojekt zur Kunstvermittlung für Menschen mit Demenz, in dem noch weitere Museen eingebunden sind (Ergebnisse werden im Herbst 2015 vorgestellt).
Jetzt aber zum Buch „Farben im Kopf. Malen und Gestalten mit Menschen mit Demenz“, das S. Leßmann, W. Schneider und K. Stangl als Praxishandbuch im Verlag an der Ruhr veröffentlicht haben. Vorab schon mal: ich kann es uneingeschränkt empfehlen für Senioren-Einrichtungen, Museumspädagogen und auch Angehörige – die avisierten Zielgruppen können zahlreichen Nutzen daraus ziehen. Was ich im einzelnen davon halte, beschreibt mein heutiger Blogeintrag.
„Dieses Buch soll Mut machen für ein Leben mit Demenz inmitten der Gesellschaft.“ Mir stach dieser Satz aus dem Vorwort sofort ins Auge, denn er zeigt sehr berührend die Einstellung, die die Autorinnen mitbringen. Da ist eine sehr starke Empathie zu spüren, aber auch eine wertschätzende Annahme der Menschen, die mit Demenz leben. Es ist ein schöner Impuls weg vom Leid hin zu einer positiven Wahrnehmung. „Menschen mit Demenz leben im Hier und Jetzt und außerdem auch noch woanders. Es ist unsere Aufgabe, sie zu finden“, heißt es an anderer Stelle. Und damit verbunden wird kein Zweifel daran gelassen, dass es auch zur Aufgabe eines Museums gehört, hier entsprechende Angebote zu machen. Mir hat in diesem Zusammenhang auch die Idee sehr gefallen, das Museum als einen idealen Ort für Menschen mit Demenz zu definieren. Ein Ort, an dem Sicherheit genauso erfahren werden kann wie eine gewisse Öffentlichkeit. Offene Räume und die Möglichkeit, in einem geschützten Umfeld aus der Isolation herauszugelangen – Museumsräume sind heilsam!
24 Wege zur Kunst
Den Anspruch, ein Praxisbuch zu sein, erfüllt „Farben im Kopf“ auf klare, gut strukturierte Weise. Man kann es nicht nur zur Vorbereitung von Museumsbesuchen nutzen (ob als verantwortliche Museumspädagogin oder als begleitende Angehörige/Pflegekraft), sondern es taugt auch für die kreative Betätigung zuhause. Sehr ausführlich sind die Materialbeschreibungen – man könnte also sofort losziehen und entsprechend einkaufen. Das finde ich super, denn ich kenne das auch, dass Experten an so etwas nicht denken, weil es ihnen so selbstverständlich erscheint. Die Wege zur Kunst sind überdies in verschiedene Themen gegliedert, es werden gute Tipps für Gesprächsanlässe und weitere Zusammenhänge gegeben, in welche man die jeweiligen Aufgaben einbinden kann. Mir fällt auf, dass auch an die kleinen Dinge gedacht wurde, die unter Umständen wahnsinnig wichtig werden können. So schreibt nur jemand, der schon alle möglichen Situationen im Umgang mit der Zielgruppe erlebt hat. Hier spricht die Erfahrung! Angefangen von „begrüßen Sie jeden Gast mit Handschlag“ bis zu dem Hinweis, dass möglicherweise eine Malschürze negative Erinnerungen auslösen kann – immer wird alles sehr lebensnah und voller Anteilnahme besprochen.
Nun geht es durch die Kunstgeschichte. Von Landschaften, zu denen eine Augenreise einführen kann über Stilleben und Porträts, bei denen das Malen mit Schablonen unterstützt wird, bis zu geschenkten Farbfeldern und der Auseinandersetzung mit Richters „256 Farben“ – es werden wunderbare Anregungen für die Kunstvermittlung gegeben. Mir hat vor allem auch die Idee gefallen, die Gäste mit den Fingern malen zu lassen. Die sinnlich-haptische Herangehensweise scheint mir für die Zielgruppe hervorragend geeignet. Alle Methoden werden ausführlich in Schritt-für-Schritt Anleitungen beschrieben. Immer wieder garniert mit konkreten Hinweisen wie z.B. der Empfehlung, die Kunstvermittlung mit Musik am besten nur nach einiger Eingewöhnungszeit zu versuchen, da sonst eine Reizüberflutung drohe.
Auch wenn hier sicherlich vor allem die Demenzerkrankten in einem frühen Stadium angesprochen werden – das Buch gehört in jede Bibliothek von Senioreneinrichtungen! Denn ich lese neben den konkreten Handlungsanleitungen vor allem auch dies: einen deutlichen Appell für mehr Kreativität in allen Lebenslagen. Weniger Perfektion, Mut zum Kontrollverlust und zu einem Umgang mit Demenz jenseits der Leidensgrenze!
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