„… faire du Dali!“


Er fasziniert Massen von pubertierenden Schulklassen in seiner traumwandlerischen Feinmalerei und ist einer der Vorreiter von Performance und Selbstinszenierung in der Kunst. Eigentlich hat er zum Thema Surrealismus nur einen erwärmten zweiten Aufguß zu bieten. Und der ist meist auch von subjektiven Erfahrungen mehr geprägt, als dass er entscheidende überzeitliche Wahrheiten zu erkennen gäbe. Dennoch hat dieser Kunst-Maniac besonder in seiner frühen Phase interessante Bilder geliefert, die vor allem dem interpretationswütigen Kunstliebhaber eine Menge Steilvorlagen liefern. Nehmen wir uns doch die Zeit und erlauben uns einen Blick in die Traumwelt des Salvador Dali.


Salvador Dali 1904 – 1989
Salvador Felip Jacint Dali wird in Figueras als Sohn des Notars Salvador Dali i Cusi und der Felipa Domenech geboren. In Erinnerung an seinen Bruder, der mit 25 Monaten an einer Gehirnhautentzündung ein Jahr zuvor gestorben war, erhielt er den Namen Salvador.
Er bezeichnet sich später als:
Mystiker, Philosopf, Architekt, Juwelier, Erfinder, Conferencier, Theoretiker, Romancier, Bühnenbildner, Librettisten, Filmemacher, Plastiker und …. auch Maler.
Mit Conferencier meinte er sicher seine vielen inszenierten Auftritte im Sinne seiner Kunst. Er gestaltete den Mythos Dali (wie es ihm später beispielsweise auch Warhol nachtat) wie regelrechte Happenings. Er sagte von sich, der von ihm gestaltete Dali-Mythos sei sein größtes Kunstwerk. Unter Freunden allerdings war er freundlich und bescheiden. Sobald Fremde oder gar Presse hinzukam, pflegte er zu sagen: „Maintenant je dois faire du Dali!“
Es leuchtet mir vollkommen ein, dass meine Feinde, meine Freunde und die Öffentlichkeit im allgemeinen behaupten, die Bedeutung der auftauchenden Vorstellungsbilder, die ich in meine gemalten Bilder umsetze, nicht zu verstehen. Wie sollten sie denn verstehen, wenn ich selber, der sie ‚macht’, sie auch nicht verstehe. Die Tatsache, dass ich selbst im Augenblick, wo ich male, die Bedeutung meiner Bilder nicht verstehe, will nicht heién, dass sie keine Bedeutung hätten: im Gegenteil, ihre Bedeutung ist so unergründlich, komplex, zusammenhängend und unwillkürlich, dass sie der einfachen Analyse der logischen Anschauung entgeht.(…) Mein ganzer Ehrgeiz auf dem Gebiet der Malerei besteht darin, die Vorstellungsbilder der konkreten Irrationalität mit der herrschsüchtigen Genauigkeitswut sinnfällig zu machen. Dass die Welt der Phantasie und der konkreten Irrationalität von der gleichen objektiven Augenfälligkeit ist, von der gleichen Festigkeit, von gleicher Dauer, von der gleichen überzeugenden, kognoszitiven und mitteilbaren Dichte wie diejenige der Aussenwelt, der phänomenologischen Wirklichkeit. Wichtig ist, was vermittelt werden soll: der konkret irrationale Bildinhalt. Die malerischen Ausdrucksmittel werden in den Dienst dieses Bildinhaltes gestellt. Der Illusionismus der nachahmenden, auf niederträchtige Weise streberischen und unwiderstehlichen Kunst, die geschickte Kniffe des lähmenden trompe-loeil, der auf analytische Weise erzählenden, so verrufene Akdademismus können zusammen mit der neuen Genauigkeit konkreter Irrationalität in dem Maße,, wie die Vorstellungsbilder der konkreten Irrationalität sich dem phänomenoligschen Wirklichen Annäherung und die entsprechenden Ausdrucksmittel derjenigen der großen realistischen Malerei – Velazquez und Vermeer van Delft – sublime Hierarchieen des Denkens werden.(…) Der Surrealismus wartet in seiner ersten Periode mit besonderen Methoden auf, um sich den Vorstellungsbildern der konkreten Irrationalität zu näher.(…) Eluards und Bretons Simulationsversuche, Bretons neuest Gegenstandsgedichte, Rene Magrittes letzen Bilder, die ‚Methode’ der letzen Skulpturen Picassos, Salvador Dalis theoretische und malerische Aktivität usw. … belegen diese Bedürfnis nach konkreter Verkörperlichung in der alltäglichen Wirklichkeit, diese moralische und systematische Beschaffenheit, objektiv und auf der Ebene des Wirklichen der wahrhaften, unseren rationalen Erfahrungen unbekannten Welt Geltung zu verschaffen. Statt der Traumerinnerung und virtueller, unmöglicher Vorstellungsbilder rein rezeptiver Zustände, die man nur erzählen kann, die körperlichen Tatsachen der ‚objektiven’ Irrationalität, mit denen man sich immerhin wirkliche verwunden kann. 1929 richtet Salvador Dali seine Aufmerksamkeit auf die inneren Mechanismen der paranoischen Phänomene und fasst die Möglichkeit einer experimentellen Methode is Auge, die auf dem unmittelbaren Vermögen systematischer, für Paranoia typischer Assoziationen beruht; diese Methode sollte in der Folge zur wahnhaft-kritischen Synthese werden, die sich ‚paranoisch-kritische Aktivität’ nennt. Paranoia: interpretierender Assoziationswahn mit systematischer Struktur – Pranoisch-krtische Aktivität : Spontane Methode irrationaler Erkenntnis, die auf der kritisch-interpretierenden Assoziation wahnhafter Phänomene beruht.
Frühe Jahre
Ein Jahr vor Dalis Geburt war sein Bruder Salvador im Alter von 2 Jahren gestorben. Sein Vater hatte ihn in seiner Kindheit mit fast erdrückender Zuwendung bedacht, die sich jedoch nicht nur auf ihn bezog, sondern auch seinen toten Bruder mit einschloss. Das Phantom des Doppelgänger-Bruders ist den Kunstkennern auch schon bei Vincent van Gogh bekannt geworden. Dalis zum Teil sehr exzentrischen Verhaltensweisen lassen sich auch auf den Versuch zurückführen, sich abzugrenzen von diesem Bruder. Dalis Mutter starb, als er kaum 17 Jahre alt war. 1918 stellte Dali zum ersten Mal aus. Er malte vor allem im Geiste der Postimpressionisten Landschaften seiner Heimatregion um Lligat. Begleitend zur Ausstellung schrieb er einen Artikel über „Die großen Maler der Malerei“ – seiner Auffassung nach Leonardo, Michelangelo, Dürer, ElGreco und Goya. Diese Praxis, seine Ausstellungen mit Artikeln, Manifesten und anderen schriftlichen Äußerungen zu begleiten, sollte Dali zeitlebens beibehalten.
Die Madrider Studienjahre
1921 kann er sich an der Madrider Kunstakademie einschreiben. Die Madrider Jahre sind geprägt von der Freundschaft mit Lorca und Luis Bunuel. Dali entwickelte sich zu einer Art Wortführer der progressiven Studenten. Ende 1924 tendiert die Malerei Dalis zum Magischen Realismus. Der Einfluss Picassos und seiner neoklassizistischen Phase wird deutlich.

Der Filmemacher Luis Bunuel gehörte mit dem Lyriker Garcia Lorca zu Dalis engerem Freundeskreis in der Madrider Studentenresidenz. Der zwanzigjährige Katalane malten den vier Jahre älteren Aragonier mit einer an Inges und der „Neuen Sachlichkeit“ orientierten Nüchternheit und Plastitzität. Bunuel bildete in dem Freundestrio den Gegenpart zu dem empfindsamen Lorca; er war sportlich, energisch, stheistisch, der modernen Technik und den Naturwissenschaften zugewandt. Dali betont durch seine Darstellung diese Wesenszüge ebenso wie die physische Präsenz und visionäre Kraft des Blicks seines Freundes.
Geradezu prophetisch führt Dali hier jene schmalen, scharf konturierten Wokenstreifen ein, da die berühmte Szene des psäteren Films, bei der das Auge der Fau mit einem Rasiermesser zertrennt wird, auf einen Traum Bunuels in Figueras zurückgeht, in dem Wolken den Mond zerteilen.
1926 bricht Dali zum ersten Parisaufenthalt auf. Es begeleiten ihn seine Schwester Ana Maria und eine Tante. Er eilt, bevor er noch die heiligen Hallen des Louvre betritt, in das Atelier Picassos.

Eselskadaver, 1928
Das Bild zeigt noch die schon 1918 erfundene Praxis, Sand und Steine mit in die Malerei einzufügen. Hinzu kommt noch die Verwendung der Emailletechnik, die dem ganzen einen Verschmelzungscharakter geben soll. L’âne pourri (Eselskadaver) lautet der Titel eines Kapitels der 1930 erscheinenden Schrift „Die sichtbare Frau“, in dem Dali eine seiner ersten Erklärungen für den paranoiden Mechanismus vielgestaltiger und mehrdeutiger Vorstellungsbilder formuliert. Darin führt er auch als Beispiel abstoßender Eindrücke wie verwesender Tier an:
Nichts kann mich hindern, das vielfache Vorhandensein der Wahnbilder im Beispiel des vielfachen Vorstellungsbildes wiederzuerkennen, selbst wenn einer seiner Zusätnde die Erscheinugnsform eines Eselskadavers annimmt und ein solcher Esel wirklich grauenhaft verwest und mit Tausenden von Fliegen und Ameisen bedeckt ist; und da man in diesem Fall keine Bedeutung a priori der verschiedenen Zuständes des Vorstellungsbildes außerhalb des Zeitbegriffs voraussetzen kann, wird mich nichts überzeugen, dass diese grausame Verwesung des Esels etwas anderes sei als der blenden harte Widerschein neuer Edelsteine. Und wer weiß, ob sich hinter den drei großen Wahnbildern, der Scheiße, dem Blut und der Verwesung nicht gerade das ersehnte Land der Schätze verbirgt.“

Film und Photographie
Bereits 1927 hatte Dali sich in einem Aufsatz über die neuen technischen Möglichkeiten des Films und der Photographie geäussert: „keine Erfindung ist so rein gewesen, wie diejenige, die den anästhetischen Blick des glasklaren Auges ohne Wimpern von Zeiss geschaffen hatte: so destilliert und aufmerksam, dass niemals die rosa Schwellung de Bindehautentzündung auftreten wird.“ Die Hymne auf die Photographie entspringt seiner antiemotionalen Auffassung vom Auftrag des Malers und einer neuen Optik.

Un chien andalou
„Ein andalusischer Hund war der Film von Pubertät und Tod, den ich dem geistvollen, eleganten und intellektuellen Paris mit der ganzen Wirklichkeit und der ganzen Schärfe des iberischen Dilches ins Herz stieß…Unser Film erzielt die von mir erwarteten Resultate. Er zerstörte an einem einzigen Abend zehn Jahre pseudeintellektuellen Nachkriegs-Avantgardismus. Dieses dreckige Ding, das man abstrakte Kunst nannte, fiel uns vor die Füße, auf den Tod verwundet, um nie wieder aufzustehen…“
Sequenzen von Schockbildern wechselten sich ab: ein Auge, das von einem Rasiermesser zerschnitten wird, eine Hand, die von Ameisen zerfressen wird oder ein verwesender Esel, der über dem Klavier hängt. Hier ist das Prinzip des Automatismus in die Kinemathographie übersetzt.
L’age d’Or
„In meiner Vorstellung sollte dieser Film die ganze Heftigkeit der Liebe, durchtränkt vom Schöpfungsglanz katholischer Mythen, übersetzen. Schon damals war ich geblendet und besessen von der Großartigkeit und dem Gepränge des Katholizismus. Für diesen Film, sagte ich zu Bunuel, wünsche ich viele Erzbischöfe, Skelette und Monstranzen. Ich wünsche vor allem Erzbischöfe, die mit ihren gestickten Mitren inmitten der felsigen Sintfluten von Kap Creus baden. Bunuel mit seiner Naivität und dem Eigensinn des Aragonesen verwandelte das alles in einen elementaren Antiklerikalismus. Ich musste ihn ständig in sienen Gedankenflügen anhalten, um ihm zu sagen: Nein, nein. Keine Komik! Diese Erzbischöfe gefallen mir. Sie gefallen mir sogar ungeheuer. Wenn du willst machen wir ein paar blasphemische Szenen, aber sie müssen mit aäußerstem Fanatismus inszeniert werden, damit die Großartigkeit eines wahren Skrilegs erreicht wird! Bunuel reise mit dem Drehbuch ab, um in Paris mit dem Schneiden zu beginnen.“
Bei der Premiere des Films am 3. Dezember 1930 tauchte ein rechtsradikaler Schlägertrupp auf, der die Leinwand mit Tinte bespritzte und die ebenfalls ausgestellten surrealistischen Bilder zerstörte. Die Präfektur verbot den Film (angeblich sei eine Parodie des italienische Königspaares in dem Film zu sehen!)
1929 arbeitet er mit Bunuel am Film „Un chien andalou“, den er mit dem Freund in Paris dreht. Dort trifft er sich mit Tzara, Magritte, Arp und vor allem Paul Eluard. Er wird vollends bei den Surrealisten aufgenommen. Die erste Begegnung mit Gala wirft ihn total aus der Bahn und mit schweren Depressionen kehrt er nach Figueras zurück. Er malt wie besessen.

Das finstere Spiel, 1929
Mit diesem Bild untermauert er sein aufsehenerregendes Entree bei den Surrealisten. Das Bild wird heftigst diskutiert. Es spiegelt den überspannten Erwartungszustand vor der erneuten Begegnung mit Gala, die mit Paul und dem Sammler Camille Goemans nach Figueras reist.
Nachdem ich mich eine Zeitlang diesen aus Kindheitserinnerungen beizitierten Phantasien hingegeben hatte, beschloss ich endlich, ein Gemälde in Angriff zu nehmen, bei welchem ich mich ausschließlich darauf beschränken wollte, jedes dieser Bilder so gewissenhaft, wie es mir entsprechend der Reihenfolge und Intensität ihres Auftretens möglich war, wiederzugeben und als Kriterium und Norm ihrer Anordnung nur ganz unwillkürlich sich einstellenden Gefühlen zu folgen, wie sie ihre empfindungsmäßige Verbindung diktieren würde. Und selbstverständlich sollte sich mein persönlicher Geschmack nicht einmischen. Ich wollte nur meiner Lust folgen, meinem ganz unkontrollierbaren biologischen Verlangen. Diese Arbeit war eine der authentischsten und grundlegendsten, die der Surrealismus mit Recht für sich beanspruchen konnte.“
Die Eluards besuchten Dali in Cadaques. Alle waren ein wenig beunruhigt wegen der Gestalt des Mannes mit kotverschmierten Unterhosen.Bei einem Spaziergang mit Dali äußerte Gala ihre Bedenken:
„Es ist ein sehr bedeutendes Werk, und genau deshalb wüssten Paul und ich und alle Ihre Freunde gern, worauf sich bestimmte einzelne Bestandteile, denen Sie besondere Bedeutung beizumessen scheinen, beziehen. Wenn diese ‚Dinge’ sich auf Ihr Leben beziehen, könnten wir nichts miteinander gemein haben, weil mir das ekelhaft und meiner Lebensart zwider ist…Wenn Sie aber Ihre Bilder zur Bekehrung anderer und zur Propaganda einsetzen wollen…, so glauben wir, dass Sie Gefahr laufen, Ihr Werk erheblich zu schwächen und auf ein bloßes psychoparhologisches Dokument zu reduzieren.
Darauf entgegnete Dali: „Ich schwöre Ihnen, dass ich kein ‚Koprophage’ bin. Ich verabscheue diese Abirrung ebenso rückhaltlos wie Sie. Aber ich betrachte das Skatologische als Schokelement, genau wie Blut oder meine Heuschreckenphobie.

Das Bild hatte für Dali programmatischen Charakter. Die Surrealisten sahen die skatologischen Elemente als absolutes Tabu an und kritisierten Dali deswegen. Diejenigen, die sich aus dem Bretonkreis zurückgezogen hatten, nahmen das Bild als ein Beispiel für eine psychoanalytische Untersuchung Dalis, der ihrer Meinung nach unter Schuld- und Miderwertigkeitsgefühlen litte.
Das Bild zeigt das Wiederaufleben pubertärer Ängste. Dabei präsentieren sich aber auch die künstlerischen Einflüsse auf Dalis Arbeit – das Standbild im Hintergrund geht eindeutig auf de Chirico zurück. Neben einem doppelten Selbstbildnis (als trancehafter Masturbator und mit kotverschmierten Unterhosen) zeigt Dali ein polymorphes Amalgam erotischer Wunschvorstellungen und verzweifelter Impotenzängste vor der großen erdrückenden Probe (Gewichtangaben auf dem Sockel)

Dali machte Anfang der 30er Jahre die Bekanntschaft mit dem Pariser Nervenarzt Jaques Lacan, der 1932 eine Dissertation über „Die paranoische Psychose in ihren Auswirkungen auf die Persönlichkeit“ veröffentlicht hatte. Lacan hatte sich für die Darstellung der verwesenden Eselkadaver interessiert und den Kontakt zu Dali gesucht. Lacan prägte den Begriff paranoisch-kritisch und Dali, der fasziniert war von der alle moralischen Schranken negierenden Offentheit und Enthemmtheit des Wahnerlebens, übertrug dieses Erleben auf seine Malerei.

Dabei spielt für ihn die Paranoia im Sinne einer Halluzination eine wesentliche Rolle und er erklärte das Modell der Wahnvorstellungen an seinen Doppelbildern (Vexierbildern).
Die Bilder Dalis spiegelten eine Vorliebe für die lang ausgezogenen, phallischen Kopf-, Rücken- oder Gesäßverlängerungen. Der „unästhetische Schock“, der durch die gallertartigen Strukturen entstand führte zu einer psychischen Beunruhigung des Betrachters. Es war die fleischliche Zersetzung, die hier in der Auflösung fester Formen ihren Ausdruck fand.

Ähnlich der Lacanschen Untersuchungen ging Dali in seiner Kunst von einem Wahnsystem als raum-zeitliches Ganzes aus und die Bilder seien wie Belichtungen eines Wahnproduktes für die Wirklichkeit.

Metamorphose des Narziss, 1937
Nachdem Dali dem 83jährigen Freud das Bild als Beispiel seiner Malerei und seiner paranoisch-kritischen Methode vorgeführt hatte, schrieb Freud später an Stefan Zweig, der bei der Begegnung anwesend gewesen war :
„Der junge Spanier mit seinen treuherzig fanatischen Augen und seiner unleugbaren technischen Meisterschaft hat mir eine andere Schätzung (der Surrealisten) nahegelgt. Es wäre in der Tat sehr interessant, die Entstehung eines solchen Bildes analytisch zu erforschen. Kritisch könnte man doch noch immer sagen, der Begriff der Kunst verweigere sich einer Erweiterung, wenn das quantitative Verhältnis von unbewusstem Material und vorbewusster Bildverarbeitung nicht eine bestimmte Grenze einhält. Aber jedenfalls sind da ernsthafte psychologische Probleme.“

In der Landschaft, fern von der heterosexuellen Gruppe, wachsen die späten Nachmittagsschatten, und Kälte befällt den nackten Jüngling, der am Rande des Wassers verweilt…sein vorgebeugter weißer Torso
In der hypnotischen Silberkurve seines Verlangens
Eisig erstarrt
Und die Zeit verfließt
…vergeht Narziß im kosmischen Taumel
…und verliert sich
im Abgrund seines Spiegelbildes
wie eine Sanduhr

Der Samen deines Hauptes ist gerade ins Wasser gefallen. Der Mensch kehrt zur Pflanze zurück
Wie die Götter…
Von ihm bleibt nur
Das halluzinierende weiße Oval seines Kopfes,
sein Kopf, Kokon biologischer Hintergedanken…
von den Fingerspitzen des Wassers gestützt
…der schrecklichen Hand
…seines eigenen Spiegelbildes
Wenn dieser Kopf zerspringt…
Wird er zur Blume werden
Ein neuer Narziß
Gala –
Mein Narziß

Hier wird das alte Thema des Narzissmus, der Selbstbespiegelung in eine Ich- und Identitätsgewissheit übertragen. Die Verdoppelung des Ichs im Akt der Selbstbespiegelung führt auch zu einer Ichgespaltenheit und Selbstentfremdung. Es taucht wieder Dalis Trauma des frühen Bruders auf. Die Motive im Bild lassen deutlich werden, dass es um den ganzheitlichen Prozess geht:Werden und Vergehen, Winter und Frühling, Liebe, Tod und Reinkarnation. Die Malerei wird hier zu einer symbolischen Geheimsprache des Unbewussten.

Die Gesänge des Maldoror, 1934
Isidore Ludien Ducass, Comte de Lautrámont (1846-1870) schrieb Les Chants des Maldoror vor 1868. Das zentrale Thema der Gesänge ist die Anklage gegen die Schöpfung und deren Verneinung. Wie die Schriften des Marquis de Sade fand dieser provokative Text das besondere Interesse der Surrealisten.„Schön wie die zufällig Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“ ist das oft zitierteste Wort aus diesen Gesängen. Eigentlich war Picasso auserkoren worden, eine illustrierte Ausgabe dieser Gesänge zu gestalten. Dieser vermittelte den Auftrag jedoch an den jungen Dali weiter. Die Blätter gelten als Meilensteine der surrealistischen Druckgraphik. Dali zitierte in diesen Blättern zum ersten Mal den Angelus von Jean-Francois Millet.

Gala und das Angelus von Millet, kurz vor dem Eintreffen der kegelförmigen Vexierbilder, 1933
Hier fasst Dalli einige seiner häufig wiederkehrenden Wahnvorstellungen zusammen.
Gala im Hintergrund mit Schirmmütze und persischer West, vor ihr am Tisch, Lenin und hinter der Tür Gorki mit einer Languste auf dme Kopf. Auf dem Regal an der Wand drei Gipsskulpturen, von denen die mittlere Büste deutlich die Züge von André Breton trägt. Zwischen Lenin und Gala auf dem Tisch ein übereck gestellter Kubus, offenbar von einem Nagel in der Schwebe gehalten. Über der Tür aber, nur dem Betrachter sichtbar, hängt als Bild im Bilde das berühmte Angelusläuten von Jean-Francois Millet aus dem Jahre 1859, das Dali seit seiner Kindheit in der Christlichen Schule von Figueras, wo es als Kopie im Korridor vor dem Klassenuimmer hing, beeindruckt und zutiefst beunruhigte.

„Dieses Gemälde rief in mir eine obskure, eine so bittere Qual hervor, dass die Erinnerung an jene beiden regungslosen Silhouetten mich mehrere Jahre lang mit einem durch ihre ununterbrochene und zweideutige Präsenz verursachten anhaltenden Unbehagen verfolgte. Doch das Unbehagen war nicht ‚alles’. Trotz dieser Gefühle … hatte ich den Eindruck, irgendwie unter ihrem Schutz zu stehen und ein heimliches und subtiles Vergnügen glänzte in der Tiefe meiner Angst wie eine kleine silbrige Messerklinge im Sonnenlicht.“

Später wird er eine tiefgreifend paranoisch-kritischer Interpretation des Angelus vornehmen, sowohl in einer Reihe von Gemälden und Objekten als auch später in einer umfassenden Abhandlung über den „Tragischen Mythos des Angelus von Millet“, den er „eines der grundlegendsten Dokumente der dalinischen Philosophie“ nennt. Dali entdeckt in dem scheinbar so frommen Bild eine ganze Reihe von erotischen Anspielungen: der Mann verdecke mit dem Hut sein erigiertes Glied, während die gebeugte Haltung der Frau nicht nur sexuelle Bereitschaft signalisiere, sondern auch eine formale Entsprechung zur Gottesanbeterin darstellt und somit ein Symbol der Herrschaft der Frau über den Mann. Der Schubkarren mit dem Kartoffelsack und die neben dem Mann hochragende Heugabel verstärken die erotische Symbolik. Das Bild mit seinen diversen Motivkreisen zeigt neben politischen Andeutungen eine erotische Schicht. Dalis mitgedachte Interpretation des Angelus-Paares konfrontiert mit dem realen Paar im Raum und dem Lauscher an der Tür. Es entsteht eine eindeutig gespannte Atmosphäre. Später wird Dali dieses Bild noch einmal in das Zentrum seiner Kunst stellen.

Der politische Wandel
1936 hielt Dalí einen Vortrag im Théâtre Vieux Colombier und am 1.Juli des gleichen Jahres einen weiteren in den New Burlington Galleries in London anlässlich der »International Surrealist Exhibition« um die Tiefen des Unterbewussten konkret zu veranschaulichen – denn danach forschte er unablässig in seiner Malerei -, entschloss sich Dalí, seinen Vortrag in einem Taucheranzug zu halten und wäre beinahe darin erstickt. Man musste schließlich den Anzug zerreißen und die Schrauben des Helms heraushämmern, um ihn zu befreien: »In der Überzeugung, dass es sich dabei um eine in allen Einzelheiten festgelegte Pantomime handelte, spendete das Publikum tosenden Beifall.« Während der Zeit in London erfährt er von der Zuspitzung der Lage in Spanien und auch von der Ermordung seines Jugendfreundes Lorca.

Zurück in Paris malt er die Visionen des herannahenden Bürgerkrieges.
„Die iberischen Wesen, die sich im Hebst gegenseitig auffressen, drücken das Pathos des Bürgerkrieges aus, der von mir als ein Phänomen der Naturgeschichte angesehen wird, im Gegensatz zu Picasso, der ihn als ein politisches Phänomen auffasste.“

Herbstlicher Kannibalismus, 1936
„Der Spanische Bürgerkrieg änderte keine meiner Ideen. Im Gegenteil, er begünstigte die entschiedene Strenge ihrer Entwicklung. Ekel und Abscheu vor jeder Art von Revolution nahmen bei mir fast pathologische Züge an. Aber ich wollte auch nicht, dass man mich eine Reaktionär nannte. Das war ich nicht… Denn ich dachte einfach weiter, und ich wollte nichts anderes als Dali sein.“

Dali hat das Bild nicht signiert, vielleicht eine Vorsichtsmaßnahme aus Angst vor möglicher Verfolgung. Vor der Landschaft von Kap Creus sind in unheimlicher Plastizität und Perfektion zwei Figuren in einem makabren Fressgelage miteinander verschmolzen. Das Stilleben-Arrangement von Kartoffeln, Brot und Bohnen sind Symbole einer bevorstehenden Fastenzeit bzw. der kommenden Hungerjahre. Hier greift Dali die orgiastische Verstümmelungs- und Verschlingungsmetaphorik auf.

Weiche Konstruktion mit gekochten Bohnen – Vorahnung des Bürgerkrieges, 1936
„In diesem Bild stellte ich einen riesigen menschlichen Körper dar, aus dem Arm- und Bein-Wucherungen hervortraten, die in wahnwitziger Selbststrangulation aneinander zerrten. Als Hintergrund dieser Architektur rasenden Fleisches, das eine narzisstische, biologische Katastrophe verzehrte, malte ich eine geologische Landschaft, die seit Tausenden von Jahren sinnlos ‚revolutioniert’ worden und nun aus heiterem Himmel erstarrt war. Den weichen Bau jener großen Masse Fleisch im Bürgerkrieg verzierte ich mit einigen gekochten Bohnen, denn man konnte sich nicht vorstellen, all dies bewusstlose Fleisch ohne die Beilage eines (wenn auch nicht unbedingt begeisternden) mehlig-melancholischen Gemüses zu schlucken.“

Die katalanischen Bohnen, die hier verwendet werden und Bohnen überhaupt wurden im Altertum als Beschwichtigung der Götter als Opfergabe verwendet. Sie sind aber auch Fastenspeise und zugleich ein Symbol für Hungersnot.Im Geheimen Leben, seiner Autobiografie fasste er noch einmal in glühende Worte, was er von diesem ganzen Todestaumel hielt:

„Die spanischen Anrachisten trugen schwarze Banner mit den Worten: Viva la muerte! Durch die Straßen des totalen Umsturzes. Die anderen trugen die rotgoldene Fahne der Tradition, des uralten Spanien mit jener anderen Aufschrift, die mit zwei Buchstaben auskam: FE (Glaube). Und auf einmal sah man mitten auf dem leichenhaften, von den Schädlingen und Würmern fremdländisch-materialistischer Ideologien halb zerfressenen Körper Spaniens die gewaltige iberische Erektion, wie eine riesige, mit dem weißen Dynamit des Hasses gefüllte Kathedrale!…Und dessen sollten wir nun Zeuge werden – wessen das Land Spanien fähig war – eine planetarische Fähigkeit zu leiden und Leiden zuzufügen, zu begraben und auszugraben, zu töten und wiederzubeleben.“

Dali und Amerika
Im November 1934 reist Dali das erste Mal nach Amerika. Er hatte die ganze Schiffahrt über eine Schwimmweste an und kettete sich an seine Bilder. Er hatte eine Ausstellung bei Levy und wird von der Kunstszene dort als Exzentriker herzlich willkommen geheissen. Sein zweiter Aufenthalt verlief äußerst erfolgreich. Er wurde mit einem Titelblatt der Time geehrt. Im Februar 1937 besuchte er in Hollywood Harpo Marx, einen der Marx Brothers, den er im Jahr zuvor kennengelernt hatte. Gemeinsam schrieben sie für die drei Brüder das Drehbuch zu »Giraffes on Horseback Salad« (»Giraffen auf Pferderücken-Salat«). Zu dem Drehbuch, das jedoch nie verfilmt wurde, fertigte Dalí eine Reihe von Bühnenbildskizzen an. Außerdem zeichnete er mehrere Porträts von Harpo. 1939 fährt Dali erneut nach N.Y. Er wird beauftragt ein Schaufester für Bonwit-Teller zu gestalten. Als dieses nicht so ausgeführt wird, wie er es entworfen hat, randaliert er und wird kurzfristig inhaftiert. Es folgen noch einige kleinere Krisen und er veröffentlicht die „Unabhängigkeitserklärung der Phantasie und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit“.„Ein Katalane, Christoph Kolumbus entdeckte Amerika und ein anderer Katalane, Savador Dali, … hat Dich (durch die „Paranoia Kinesis“) erobert, Du hast allen Grund, stolz zu sein, ich gehe und ich komme, ich liebe Dich von ganzem Herzen“.
Während der Generalmobilmachung fahren Gala und Dali über den Atlantik zurück nach Frankreich und lassen sich zunächst in Arcachon nieder. Hier werden sie von Coco Chanel aufgenommen. Als die Deutschen Bordeaux bombardieren fliehen Dali und Gala nach Spanien. Dort kommt es erstmals 1940 nach 10 Jahren wieder zu einem Treffen zwischen Vater und Sohn. Von Lissabon aus schiffen sich Dali und Gala nach N.Y. ein. Das Paar lässt sich in Kalifornien nieder. Dali entwirft mehrere Schmuckstücke.1941 eröffnet die große Retrospektive im Museum of Modern Art. Zwischen 1943 und 1948 erhält Dali viele Aufträge kommerzieller Art und malt recht wenig. Er gestaltet u.a. ein Parfumflakon, entwirft die Traumsequenzen für Hitchkocks Film „Spellbound (Ich kämpfe um Dich) mit Gregory Peck und Ingrid Bergmann (?). Er malt Porträts berühmter Persönlichkeiten wie Helena Rubinstein, Jack Warner.
Eine Art penetranter Photorealismus kennzeichnet diese Phase.
Meine nackte Frau beim Betrachten ihres eigenen Körpers, der sich in Treppen, drei Wirbel, einer Säule, Himmel und Architektur verwandelt, 1945
„Auf Holz gemalt, in einem Zeitraum von vier Wochen, zwei Stunden am Tag. Im Alter von fünf Jahren sah ich ein von Ameisen zerfressenes Insekt, von dem nur noch die saubere und durchsichtige Hülse übrigblieb. Durch die Löcher seiner Anatomie konnte man den Himmel sehen. Immer wenn ich der Reinheit näherkommen möchte, sehe ich den Himmel durch das Fleisch hindurch.“

1929 hatte er über die Betrachtung von Galas nacktem Rücken geschrieben:
In diesem Augenblick sah ich ihren Rücken. Gala saß am Strand. Und ihr herrlicher Rücken, der so athletisch und zugleich so zerbrechlich aussah, so gespannt und so zart, so weiblich und so energisch, faszinierte mich wie einst der Rücken meiner Amme. Ich sah nur noch diesen Schirm der Begierde, der in der Verengung der Taille und der Rundung des Gesäßes endete.“

Die Beschäftigung mit der Kunst der Renaissance führte Dali zu der Idee, Körperformen in Architektur zu übersetzen (Der Mensch als Maß aller Dinge).

Madonna von Port Lligat, 1949
Mit diesem Gemälde, das Dali 1949 Papst Pius XII vorführte, inthronisierte er zugleich seine mystische Phase, die er wenig später in seinem Mystischen Manifest programmatisch verkündete.

Statt einer Öffnung im Rücken meiner Amme ist es jetzt ein Tabernakel im Torso der Gala-Jungfrau und ein anderes Tabernakel mit dem göttlichen Brot, das sich im Körper des Jesusknaben öffnet.“
„Die Port Lligat-Madonna, die ich gerade vollendet habe und die hier erstmals ausgestellt wird, ist die Antwort auf das Versprechen, das ich dem Publikum auf den letzten Seiten meines Geheimen Lebens gegeben habe: Die surrealistische Erfahrungen meines Lebens mit der großen klassischen Tradition der Malerei zu verbinden. Die dalinischen Symbole, die oberflächlichen Gemütern früher als Paradebeispiel willkürlicher Ausgeburten erschienen waren, offenbaren plötzlich ihre mystische Bedeutung, die sie in Wirklichkeit schon immer hatten…Die offenen, in den menschlichen Körper geschnittenen Räume werden „Mystische und Jungfräuliche Tabernakel“.

Das Brot, eine rätselhafte Obsession Dalis, wird zu einem strahlenden Symbol der Eucharistie. Die bekannten quälenden Eier werden magisch in Übereinstimmung gebracht mit dem Ei, das der göttliche Piero della Francesca als Sinnbild der Auferstehung gemalt hat….Gerade in der Fortdauer der Erinnerung liegt die Wirkung, die meine Bilder ausüben.
Mit Unterstützung des rumänischen Fürsten Matila Ghyka, den Dali in Kalifornien kennengelernt hatte und der dort an der Universität Mathematik lehrte, wurde die Proportionslehre und die Geometrie der Körper zu einem bestimmenden Aspekt dieses Bildes.

Der Gesamtanlage des Bildes sind geometrische Harmoniestrukturen zugrunde gelegt und die Madonna zeichnet ein spitzwinkliges Dreieck, das von dem Rechteck des Tabernakels umschlossen wird. Die Gesetzmäßigkeit der Natur wird sichtbar durch die Meerestiere wie die Spitzmuschel, deren Struktur auf einer nach der Fobonacci-Reihe sich erweiternden Spirale beruht.

Nach den langen Jahren fließender Deformationen hat sich Dali nun in die strenge Schule der Proportions- und Vollkommenheitsideale der Renaissance begeben, um von da aus seine mystischen Visionen zu entfalten.

Nuklearer Mystizismus
Die Atombombe auf Hiroshima im August 1945 versetzte Dali in eine Art Lähmung des Schreckens. Er hatte sich schon von jeher Gedanken über den Aufbau der Materie gemacht und beschäftigte sich mit den Fragen der Kernspaltung und der unsichtbaren Energie der Materie. Ab 1948 überträgt er die aus dem atomaren Modell abgeleitete „prästabilisierte Harmonie“ auf das christliche Symbol des Kreuzes. Er entwickelt nach dem paranoiden einen mystisch-religiösen Beziehungswahn, der für ihn in eine Art malerischen Kreuzzug des „militanten Mystizismus Spaniens“ gegen den Anti-Christen Hitler sein sollte. Zugleich konstruiert er jedoch die Kreuze nach den Proportionslehren und harmonikalen Theorien der Renaissance.

Sixtinische Madonna, 1958, The Museum of Modern Art, New York, Sammlung H.J. Heinz
Ausgehend von einer vielfach vergrößerten Reproduktion des Ohres von Papst Johannes dem XXIII (von einem Photo auf dem Titel der Paris-Match entnommen) stellt er ein Bild der Sixtinischen Madonna von Raffael dar. Es ist dies eine Darstellung mit symbolischer Mehrdeutigkeit – aus der Nähe ein Raster, weiter weg die Madonna und von ganz weit die zwei Meter hohe Ohrmuschel eines engelhaften Wesens.
„Wenn Physiker Antimaterie produzieren, dann sollte es den Malern, die schon Spezialisten für Engel sind, erlaubt sein, sie zu malen. In der surrealistischen Epoche wollte ich die Ikonographie der Innenwelt schaffen – der Welt des Wunderbaren, die meines Freundes Freud. Es ist mir gelungen, es zu tun. Heute hat die Außenwelt, die der Physik, die der Psychologie überstiegen. Heute ist Heisenberg mein Vater. Mit Pi-Mesonen und den gelatinösesten, den unbestimmtesten Neutrinos will ich die Schönheit der Engel und der Realität malen.“

Durch die Transzendierung der Wirklichkeit hat Dali ein Äquivalent zur Raum –Zeit-Gleichung und zur Sichtbarmachung der vierten Dimension geschafft. Dem Ohr widmete Dali immer schon gesteigerte Aufmerksamkeit. In seinem Atelier hatte er ein Gipsmodell. Dali vergrößerte den Ausschnitt stark, damit das Raster hevortrat. Dann malte er die Modonna in das Ohr und legte mit Hilfe einer Siebdruckschablone das graue Rastermoré darüber. Da die Ohrmuschel auch aus Helix und Anthelix besteht, ist sie wohl auch als morphologisches Analogon zur Doppelhelix des DNS-Moleküls zu sehen und mit kann man sie mit dem genetischen Lebensprinzip gleichsetzen. Mit dieser Technik der mikroskopischen Raster hat Dali schon vor Lichtenstein mit dieser Methode experimentiert. Damit wird er auch Wegbereiter für die deutsche Malerei der frühen sechziger Jahre, wo Gerhard Richter und besonders Sigmar Polke mit verwandten Recherchen ansetzen. Auch die Bewegung der Op-Art und kinetischen Kunst fanden durch diese Malerei ihre Anregungen. Dali experimentierte auch mit dem dreidimensionalen Sehen und entdeckte beim Schüler Vermeers Gerrit Dou die Experimente zum Stereoskopischen Malen (dieser hatte immer mehrere Versionen seiner Bilder gemalt und galt als verrückt – Dali entdeckte die leichten Verschiebungen, die im Auge sich zu einem ergänzenden Sehen vereinigen und räumliches Sehen ermöglichen). Mit Spiegelprojektionen und verschiedenen Malereien experimentierte Dali auch damit. Ebenso entwarf er holographische Malereien.

Dalis wechselnde Rezeption zeitgenössischer Ausdrucksmittel und ihre bedenkenlose Verknüpfung mit Kitschelementen oder Themen der Hisotirenmalerei – das alles immer einer mythomanischen Weltanschauung untergeordnet – macht ihn aus heutiger Sicht zum Vorläufer der Postmoderne.

Der Bahnhof von Perpignan, 1965
Das Bild geht auf eine in Perpignan erlebte Vision zurück, die Dali am 19. September 1963 in seinem Tagebuch beschreibt und auf die er später wiederholt mit philosophischen Deutungsversuchen eingeht:

„Ich winkte ein Taxe heran und bat den Chauffeur, mich langsam um den Bahnhof herumzufahren. Ich kam auf dem Platz bei Sonnenuntergang an, in aller Herrlichkeit. Ein Licht von Feuersbrünsten, eigelb und goldrot, drang durch das ganze Gebäude, sprang durch die in Flammen stehenden Glassscheiben zurück, ergoss sich über alle Fassaden rings umher…Als ich die Augen in diesem blendenden Feuer hob, sah ich, dass die elektrischen Fahrdrähte der Straßenbahn über dem Platz einen vollkommenen Kreis beschrieben…So schmückt sich dieses vom königlichen Licht durchdrungene Glasdach am Himmel mit einer knisternden Monarchenkrone, und als ich diese Fahrdrähte bemerkte wurde ich von etwas wie Ekstase ergriffen…Die ganze Erleuchtung wurde in meinem Innern geboren und pflanzte sich durch die Eingeweide fort, und in diesem für die Gegenwart einer Wahrheit symptomatischen Zustand begriff ich, dass ich einem Modell des Weltalls nachsann…Ich sah, dass es (das Universum) zwischen der transparenten Fassade des Bahnhofs on Perpignan und der göttlich vollkommenen Kurve der Fahrdrähte der Straßenbahn begann und endete.“
Aus dieser Vision und einer daran anschliessenden exakten Recherche über die Architektur des an sich unscheinbaren Bahnhofs und seiner Umgebung entwickelte Dali einen kosmologischen Beziehungswhn, der ihm eine Fülle von Erkenntnissen erschloss.
So entdekcte er nicht nur überraschende geometrische Strukturen, nicht nur die Tatsache, dass in seiner Nähe das Maß des Meterstabs festgelegt wurde, nicht nur dass Hannibal und Trajan sich hier aufhielten, sondern dass auch die geophysikalische Struktur dieser Gegend bedeutsam ist. Im Behnhof von Perpignan verdichtete sich ganz Europa, bevor sich im Laufe der Kontinentalverschiebung der Golf von Biscaya bildete und der Abtrieb der Kontinente in Richtung Nordpol dazu zwang, die iberische und granitene Halbinsel zu umrunden, so dass Europa als zusammenhängendes Territorium erhalten blieb.
In einem Aufsatz über die Geschichte der Malerei schrieb er im Zusammenhang mit der dreidimensionalen Malerei über seine Perpignan-Bilder

„Alles im Kosmos kulminiert im Menschen, Gottes Sohn, was besagen will, dass der ganze Kosmos unser Haus ist, nachdem wir von allen Paracelsischen Existenzängsten (des Versinkens in der Unendlichkeit des Weltalls) befreit sind durch den Bahnhof von Perpignan, genau der Station, die der Ursprungsort jenes Menschen ist, der mit dem paranoischsten Auge, das je existierte, eine malerische Methode erfand (dank des Moiré durch sukzessive Schichten des parabolischen Fliegenauges): das Wunder der Malerei, die neue, wahrhaft kosmische und stereoskopische Verfahrensweise, die es der Malerei erlaubt, mit jedem Pinselstrich weiter und unaufhörlich das Universum zu erfinden.“

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Eine Antwort zu “„… faire du Dali!“”

  1. „The railway station of Perpignon“….i’m so impressed by this picture…how can an artist paint such pictures???????it’s amazing….

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