Der Einfluß außereuropäischer Kunst auf die Avantgarde in Europa ist nun hinreichend beleuchtet worden. Doch auch in der Neuen Welt gibt es eine Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die eine eigene Identität herauszubilden versucht. Dabei spielen die kulturellen Wurzeln der jeweiligen Ursprungsländer eine wesentliche Rolle. Wo die nordamerikanischen Beiträge rasch in den Kanon der zu beachtenden Kunstströmungen aufgenommen wurde, blieben andere Äußerungen hinten angestellt. Es sollte noch bis in die neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts dauern, bis endlich auch Länder wie Afrika, Südamerika oder Asien ihre Beiträge auch entsprechend gewürdigt bekamen. Uneingedenk der Tatsache, dass der Einfluss dieser ursprünglichen Kreativität vorher schon eine wesentlich Rolle gespielt hat.
Pablo Antonio Cuadra, * 1912 in Managua/Nicaragua
Die Geburt der Sonne
Ich habe neue Welten erfunden. Ich habe erdachte
Nächte erträumt aus unergründlichen Substanzen.
Ich habe strahlende Gestirne erschaffen, unerreichbare
Sterne ganz nah bei blinzelnden Augen. Niemals jedoch
Werde ich jenen ersten Tag wiederholen an dem unsre Väter
Mit ihren Sippen den feuchten Urwald verließen
Und nach Osten sahen. Sie hörten das Brüllen
Des Jaguars. Das Singen der Vögel. Und sie sahen
Einen Menschen der sich erhob dessen Antlitz brannte.
Ein Geschöpf mit funkelndem Antlitz,
dessen glühende Blicke die Sümpfe austrockneten.
Ein Wesen glutvoll und hoch dessen Gesicht brannte.
Dessen Antlitz die Welt erhellte.
Die Entdeckung der kulturellen Identität
Die Geschichte der Coatlicue Mayor – einer aztekischen Götterstatue, die nach ihrer Entdeckung im Jahre 1790 bald wieder vergraben wurde, weil ihr Anblick zu ‚schrecklich‘ war und die Humboldt wieder ausgraben durfte, nur um sie in Augenschein zu nehmen, spiegelt den Wandel der Sensibilität, die wir in den vergangenen Jahrhunderten gegenüber der Kunst alter Kulturen erfahren haben. Heute steht sie an einem zentralen Platz im Museo de Antropologia.
Das europäische Geschichtsbewußtsein widersetzte sich den unergründlichen amerikanischen Kulturen von Anfang an. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhundert mehrten sich die Versuche, gewisse Unterschiede, welche die Einheit des Menschengeschlechts zu negieren schienen, zu beseitigen. Einige verfochten die Meinung, daß die alten Mexikaner einer der versprengten Stämme Israels seien; andere schrieben ihnen einen phönizischen oder kathargischen Ursprung zu; wieder andere, wie der mexikanische Gelehrte Sigüenza Gongora, meinten, daß die Ähnlichkeit zwischen einigen mexikanischen und christlichen Riten ein verzerrtes Echo der Predigt des Evangeliums durch den Apostel St. Thomas sei, der bei den Indianern unter dem Namen Quetzalcóatl bekannt war; der Jesuit Atanasio Kicher, eine wandelnde Enzyklopädie und der Ägyptomanie verfallen, verkündete, daß die Kultur Mexikos, wie man an den Pyramiden und anderen Indizien sähe, eine überseeische Abwandlung derjenigen Ägyptens sei.
Der Muralismo
Die Conquista vernichtete im ganzen Kontinent die indianischen Strukturen. Die alten Kulturen zerbrachen und wurden zu Ruinen, die unter der dichten tropischen Flora der Selvas weiterträumten. Bis die mexikanische Revolution und die Bewegung des Indigenismus in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts sie zurückeroberten und die Künstler sie ins Leben zurückführenen.
Diego Rivera
Er verbringt als junger Maler wie die meisten seiner Malerfreunde einige Jahre in Europa. Paris war und ist bis heute das Mekka aller iberoamerikanischen Künstler. In den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts verkörperte die Stadt für sie die Verheißung, das Tor zur Moderne. Rivera gerät unter den Einfluß des Kubismus. Als er 1921 nach Mexiko zurückkehrt, ist es, als würde er sich von diesen europäischen Jahren verabschieden. Er behält nur, was ihm nützlich sein kann (die Erfahrung, mit Formen und Farben den Bildraum zu organisieren und das großartige Kolorit der spanischen und italienischen Meister). Eine neue Ikonographie wird geboren, die sich dem Mexiko vor der Conquista widmet. Es entwickelt sich mit Rivera erstmals eine eigenständige mexikanische Malerei. Die Volkskunst, von Künstlern bislang kaum als kreativer Beitrag einer Kultur wahrgenommen, feiert in der Malerei Triumphe. Rivera ist auch einer der ersten Sammler prähispanischer Kunst. Nach seinen Plänen wird für die zahllosen Objekte ein Museum erbaut. Er wendet sich auch den alten Schriften zu. Er illustriert 1931 den Popul Vuh, das Maya-Buch über den Beginn des Lebens und die Glorifizierung der Götter und Könige.
Vor allem in den Murales hat Rivera präkolumbische Themen, Götter und Idole, in die historisch orientierten Bildgeschichten eingeführt. Er war der erste Maler, der dem Volk die alten Götterbilder in seinen Monumentalgemälden wieder ins Gedächtnis rief.
Wandgemälde zur Geschichte Mexikos im Präsidentenpalast, Mexiko City
Abgsehen von einigen Auftragsarbeiten malt Rivera fast ausschließlich das Leben, die Rituale, die Trachten der indianischen Stämme. Er will sie ins das Bewußtsein der Bevölkerung zurückbringen
José Clemente Orozco kam erst 1932 zum ersten mal nach Europa. Seine Reisen führten ihn in die USA, die er 1917 zum ersten Mal besuchte. Er erlebte eine intensive Beeinflussung durch den sog. Delphischen Zirkel, eine Gruppe von Intellektuellen, die von Spengler und seinen Weltuntergangsvisionen beeindruckt waren zund zugleich an Weltverbesserung durch eine gesunde Lebensform glaubten, wie sie auf dem Monté Verità, in Ansätzen in Worpswede oder in Bayreuth vorgelebt wurde. In Gestalt großer mythischer Figuren, die durch Feuer und Schwert eine neue, bessere Welt heraufbeschwören, hat sich solches Gedankengut möglicherweise in Orozcos Malerei niedergeschlagen. Prometheus ist eine seiner Idealfiguren.
Seine Stärke liegt im Expressiven. Er kam 1932 zum ersten Mal nach Europa
Orozco hat wie Rivera mehrere Wandbilder in den USA gemalt und damit seine Thesen direkt einer anderen Kultur vermitteln können.
Götter der Moderne, Wandgemälde der Bibliothek im Darmouth College, 1934
David Alfaro Siqueiros
Jackson Pollock war sein Schüler beim „Experimental Workshop“ 1935 in New York.
Siqueiros probierte neue Materialien und Techniken aus und hat damit die jüngere Generation vor allem in Amerika entscheidend beeinflusst. Er war durch und durch Revolutionär. Seine Stärke lag im Experiment. Er probierte neue Materialien und Techniken aus und hat damit die jüngere Generation vor allem in Amerika entscheidend beeinflußt. Er lehnte Mythos und Indianismus als Bildthema ab.
Die letzten Tage des Porfirio Diaz
Carlos Mérida
Er hielt sich in Europa auf, nachdem er in Guatemala-City in einem kleinen Künstlerkreis um Jaime Sabartés, den ersten Biografen Picassos aufgewachsen war. In Paris verbindet ihn eine enge Freundschaft mit Modigliani und er interessiert sich intensiv für die Kunst Mondrians. Vom Kubismus auf das äußerste inspiriert entwickelt er seine Kunst hin zu einem Geometrismus, zur linearen Abstraktion.
„Bei meiner Rückkehr nach Lateinamerika entdeckte ich die Folklore. Ausgehend und aufbauend auf ihr könnten wir eine hervorragende Kunstform entwickeln, mit den gleichen Tendenzen wie sie Europa hervorgebracht hat. Von diesem Moment an zeigte meine Malerei eine eindeutige folkloristische Tendenz. Ich glaube, dass alle Kunst ihre Wurzeln in der Folklore hatte und hat.“
„Ich bin ein Maya. In mir fließt Maya-Blut. Ich habe Peten besucht und die Bauten im Dschungel von Tikal. Ich fühle daß diese abstrakte Art, lebenswichtige Fragen und Situationen in Stein und mitten unter den Bäumen zu lösen, mich zutiefst und definitiv beeinflußt hat.“
Seine Visionen sind bestückt mit präkolumbischen Fomelementen und den Farben der Welt der indianischen Trachten und des Kunsthandwerks.
„Maya-Reminiszenzen haben mich geprägt. Daher liebe ich Klee, Kandinsky, Miró, Picasso. Sie alle spielen mit dem gleichen Einsatz. Sie alle denken über die gleichen Werte nach.“ Er gebrauchte die alten Bildformen im Sinne einer universalen, zeitgenössischen Bildsprache. Sein formales Vokabular, ein Gebilde aus abstrakten Formen, die sich zu Figurenzeichen zusammenschließen, wird zu einer modernen Schrift über ein große Vergangenheit.
Drei Frauen, 1927
Rufino Tamayo
Er stammt aus Oaxaca, der traditionsreichsten Stadt Mexikos und war zapotekischer Abstammung.
„Die Substanz von Rufino Tamayo ist das Mexikanische, das Mexiakanische der Eingeborenen, das uralte Reine tief Einheimische, die Formen und Farben der archäologischen Götterbilder, der prähispanischen Keramik aus dem Boden der Indios, der grauen und dunklen Töne ihrer Gesichter, ihrer täglich gebrauchten Dinge, ihrer Früchte und selbst ihrer Gedanken und Seelen.“ (Octavio Paz)
Mann beobachtet Vögel
Rivera und die Generation der Muralisten sahen in dem nationalen Erbe auch die nationale Botschaft, die sie bildlich darstellen wollten, um sie dem Volk nahezubringen. Eindeutig hatten ihre Malereien in ihren politischen und sozialen Inhalten didaktischen Charakter. Tamayo – wie auch Mérida – verstand die Überlieferung als künstlerischen Impuls, um eine neue, eigenständige moderne mexikanische Kunst zu begründen, die zugleich aber universell verstanden werden sollte. Tamayo hat lange in New York gelebt. 1957 zieht er für sieben Jahre nach Paris.
Frida Kahlo
Sie ist Mexikanierin mit deutschstämmigem Vater. André Breton war hingerissen von ihr:
„Ich hatte nicht gedacht, daß die Welt der Früchte etwas so Wunderbares hervorbingen kann wie die pitahaya, deren Pulpe die Farbe und das Aussehen eingerollter Rosenblätter trägt – die pitahaya mit ihrem saftigen Fleisch und ihrem Geschmack wie ein Kuß aus Liebe und Begehren. Nie hatte ich einen Klumpen jener roten Erde in der Hand gehlaten, der die Statuetten von Colima – halb Weib halb Grille – göttlich geschminkt entstiegen sind. Und schließlich hatten meine Augen aus sie nie erblickt, die ihnen so überaus gleicht, in der Haltung und im Schmuck einer Märchenprinzessin mit magischdn Kräften in den Fingerspitzen, im Lichtstrahl des Vogels Quetzal, der, wenn er fortfliegt, Opale auf die Felskanten streut: Frida Kahlo de Rivera.“
Das phantastisch-surreale Element ihrer Malerei gehörte weniger dem europäischen Surrealismus an. Es entsprang vielmehr ihrer mystischen Verbundenheit mit ihrem Land. Ihr Werk ist tief in der mexikanischen Kultur angesiedelt, inspiriert von Exvotos, die zu Tausenden in mexikanischen Kirchen hängen, von Darstellungen der Leiden Christi und Martyrien der Heiligen, dem bevorzugten Bildgegenstand in den Malereien der Kolonialzeit.
Frida Kahlo war die erste Malerin, die den Augenblick einer Geburt – ihrer eigenen – malte. Das Vorbild dazu liegt weit zurück – in einer Skulptur aus aztekischer Zeit. Diego Rivera selbst war von der Neu-Erfindung dieses Vorganges überwältigt:
„Seit dem eindrucksvollen aztekischen Meister, der den schwarzen Basalt skulptierte, war sie die erste, die den wirklichen Geburtsvorgang darstellte. Eine Geburt, die die einzige Frau hervorbrachte, die in ihren Kunstwerken die Gefühle, die Aufgaben und die schöpferischen Möglichkeiten der Frau mit unüberbietbarem körperlichen Einsatz darstellte. Eine Geburt, die die bedeutenste Malerin zur Welt brachte, die der beste Beweis für die Existenz der Renaissance der mexikanischen Kunst ist“.
Frida Kahlo ist eine Malerin, die die Vergangenheit personalisiert. Sie holt die alten Kulturen in ihr Leben, macht sie sich zu eigen.
Amerikanische Visionen
Ausgehend von dem Interesse an den Ursprüngen von Kunst und Kultur des amerikanischen Kontinents gelangten Künstler ganz unterschiedlicher Herkunft zu einer Kunst, die Verbindungen zu den Ureinwohnern aufnimmt.
Marsden Hartley
Er ist einer der frühesten nordamerikanischen Modernisten und einer der ersten, die sich überhaupt mit der indianischen Kultur beschäftigen. Er kam im Jahre 1912 nach Paris, wo interessanterweise seine Faszination für das Indianische mit dem Besuch des Pariser Musée du Tracadéro einsetzte.
„Die eigentlichen Dinge können wir hier im Trocadéro finden. Die Menschen hatten keinen kleinlichen Ehrgeiz, sie schufen aus einer inneren Notwendigkeit heraus.“ (Brief an A. Stieglitz in New York)
Seine emotionale Identifikation mit den Indianern kulminierte später in der Idee, selbst zum Indianer zu werden, es ihnen gleich zu tun und „sein Gesicht mit ihren Symbolen gemalen und gen Westen ziehen, um die Sonne niemals untergehen zu sehen.“
Bemerkenkswerterweise entstand die Serie der „Amerika-Bilder“ in Berlin, wo er wiederum im Völkerkundemuseum wichtige Anregungen fand. Sicher kannte er auch die Veröffentlichung des Almanachs „Der Blaue Reiter“ und Mackes Ausführungen über die Masken.
American Indian Symbols, 1914
Während Marsden Hartley, zu seinem eigenen Missfallen, dem Europäischen noch offensichtlich verpflichtet war, keimte und erblühte im Amerika der späten dreißiger und vor allem der vierziger Jahre ein „Neuer Primitivismus“, der unter anderem als Antwort auf die europäische Moderne, der eigene progressive nordamerikanische Künstler etwas eigenes entgegensetzen wollten, anzusehen ist.
Symptomatisch sind die Worte Adolph Gottliebs:
„Obwohl moderne Kunst durch die Entdeckung primitiver Kunstformen erste Impulse erhielt, meinen wir, daß die wahre Bedeutung primitiver Kunst nicht vorrangig im formalen Bereich zu suchen ist, sondern in dem geistigen Gehalt, der allen archaischen Werken zugrunde liegt.“
Das geistige Klima, in dem neben dem Bewußtsein von den eigenen Wurzeln und der ohnehin anstrengenden Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten in der Kunst auch, wenngleich verhaltener, Naturmystizismus sowie die Grundlagen moderner Psychologie wirksam werden konnten, war in den vierziger Jahren geboren. Künstler wie Jackson Pollock oder Barnett Newman waren inspiriert von der Stammeskunst der nordamerikanischen Indianer. Pollock gab später an, seine Drippings seien durch die Sandbilder der Indianer beeinflusst gewesen.
1941 gab es die legendäre Ausstellung „Indian Art of the United States“
Viele amerikanische Maler hatten Sigmund Freud und C. G. Jung gelesen; Jackson Pollock hatte sich 2 Jahre lang einer Jungschen Analyse unterzogen. Das kollektive Unterbewußtsein war ein wichtiges Schlagwort. Barnett Newman, der vor den späten Vierzigern kein einziges bedeutendes Werk schuf, aber schon ein aktiver Propagandist dieser mythenbefrachteten Kunst war, redete dauernd von der Notwendigkeit, sich wieder zu „reprimitivisieren“, gleichsam durch Regression kulturelle Ganzheit zu erlangen.
„Der Ursprung der Moderne“ in Kulturtussi.de:
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