Der Ursprung der Moderne – Teil 3


Wenn einer eine Reise tut, dann hat er viel zu erzählen! Eine kleine Binsenweisheit, die aber für die Entwicklung der Kunstgeschichte von entscheidender Bedeutung sein sollte. Bevor das Sturmgewitter des Ersten Weltkrieges alles aus den Fugen gehoben hat, reisten viele Avantgarde-Künstler in ferne Länder, um sich inspirieren zu lassen. Die Impulse, die sie vor allem von außereuropäischen Kulturen in ihre Kunst einfließen ließen, haben die Malerei des 20. Jahrhunderts entscheidend beeinflußt und die Ästhetik von Form und Farbe unserer Zeit entscheidend mitgeprägt.
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Gauguins Haus auf Tahiti


„Die Erleuchtung kam für mich also aus dem Orient!“ (Henri Matisse)
Vor allem die Suche nach Möglichkeiten, den Impressionismus zu überwinden war der Motor für die Reise zu neuen Inspirationsquellen. Paul Gauguin war natürlich für alle Künstler ein unbedingtes Vorbild.
Matisse ist der erste Künstler, der 1906 eine afrikanische Maske erwirbt (auch wenn sich diese Entdeckung kaum in seinem Werk niederschlägt, zeugt sie doch von seiner Öffnung gegenüber anderen kulturellen Modellen)
Matisse ist wahrscheinlich der erste Künstler, für den das Hin und Her zwischen zwei Kulturen die Grundlage einer Spannung und einer Reflexion bildet, die sich durch sein ganzes Werk zieht.
Er besucht die Sammlung islamischer Kunst im Musée des arts décoratifs in Paris und während eines Deutschlandaufenthaltes 1910 eine Ausstellung islamischer Kunst in München.
Islamische Kunst
Ein Reichtum der Formen, die die westliche Trennung zwischen ‚hoher‘ und ‚niederer‘ Kunst nicht kennt. Einheit von Dekoration und Spirituellem. Im Gegensatz zur griechisch-römischen Kunst reproduziert die islamische Welt nicht das Reale, sondern erschafft mit Hilfe eines Zeichensystems eine autonome Wirklichkeit, die sie in das reale Leben integriert.
In den Jahren 1912/1913 reist Matisse mehrmals nach Marokko. Es geht ihm jedoch nicht darum, an den Orientalismus des 19. Jahrhunderts anzuknüpfen. Er ist auf der Suche nach seinem eigenen Stil.
Seine Marokko-Erfahrung bestätigt Matisse in dem, was er bereits beim Anblick Gauguins erahnt hatte, nämlich dass die Verwendung neuer Motive an sich sekundär ist und das Wesentliche darin besteht, die Grundlagen einer künstlerischen Sprache zu verbreiten.
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Das Tor der Kasba, 1912, Puschkin-Museum Moskau
Betten und Schrank
Vom Alter blank,
Würden die Kammer uns zieren,
Seltener Blumen Duft
Mischt in der Luft
Sich der Ambra Elixieren;
Reicher Decken Glanz,
Des Morgenlandes üppige Prächte –
Dies all insgeheim
Dem Geist des Daheim
So süßen Mutterlaut brächte.
Dort wird nur Ordnung im Verein
Mit Schönheit, Frieden, Wonne sein.

Es war, als habe Matisse Baudelaires Invitation au voyage – das Gedicht, das zur Quelle für sein berühmtes Bild Luxus, Stille und Wollust wurde – endlich angenommen, als er 1911 bis 1913 seine beiden Arbeitsreisen nach Tanger macht. Mitgespielt hat bei diesen Exkursionen in die islamische Welt sicher auch seine tiefe Bewunderung für persische Kunst. Anscheinend suchte er durch die Konfrontation mit einer außereuropäischen Natur und Kultur seinen künstlerischen Erfahrungskreis zu weiten und neu zu beleben.
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Der islamischen Kunst ist die Darstellung der menschlichen Gestalt fremd und Matisse interessiert die Spannung zwischen diesem und dem westlichen Konzept, in dem der Mensch eine zentrale Rolle spielt.
Odalisques
Sie stehen für Matisses hartnäckiges Bemühen, die menschliche Figur in ein dekoratives Gesamtbild zu integrieren oder, wenn man so will, zu einer Synthese zwischen der figurativen Tradition des Westens und der abstrakten, geometrischen und dekorativen des islamischen Orients zu finden. Seine Odalisken sind artifizielle Schöpfungen mit mystischem und heiligem Charakter, und wie die Frauen von Tahiti verkörpern sie die Nostalgie eines goldenen Zeitalters, das der Vergangenheit angehört.
Teppiche
Ein Motiv, das Matisse erlaubt, wieder ein dekoratives Element in die westliche Kunst einzuführen. Die Zweidimensionalität der Teppichdarstellung erlaubt ihm, Schritt für Schritt die illusionistische Tiefe aus seinen Bildern zu vertreiben. Darüber hinaus ist er voller geheimer Zeichen und Bedeutungen: in der Tradition des Koran symbolisiert er das irdische Paradies
Tahitireise
Das Vorbild beschäftigte Matisse sosehr, dass er sich 1930 zu einer Reise nach Tahiti aufmachte. Während des Aufenthalts dort und auch nach der Rückkehr ist seine künstlerische Produktion zunächst nicht unbedingt voll von seinen Eindrücken und eher mager zu nennen. Erst als er 1946 mit seinen papier découpés beginnt, scheint er das adäquate Mittel zur Umsetzung seiner Eindrücke gefunden zu haben. Fünfzehn Jahre nach seiner Tahiti-Reise, im Alter von 77 Jahren, erinnert er sich an die ausgeschnittenen und auf Flechtwerk befestigten Formen, die er in tahitianischen Behausungen gesehen hatte. Auch ist da noch die Erinnerung an diese Welt zwischen Himmel und Wasser, dieses Fließen, in dem die Pflanzen, Vögel und Fische ein eisiges Ballett aus ornamentalen und organischen Formen bilden.
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Océanie, le ciel und Océanie, la terre
Die Idee des Teppichs kehrt hier noch einmal mit besonderer Kraft zurück.
„Das Dekorative ist für ein Kunstwerk etwas äußerst Wertvolles und eine wesentliche Eigenschaft. Zu sagen, die Malerei eines Künstlers sei dekorativ, ist keineswegs etwas Negatives“.
Paul Klee und August Macke
Tunisreise
Sie ist vergleichbar mit dem Aufbruch Gauguins nach Tahiti in ihrer Bewertung als Vorbote einer neuen Ära. Sie ist zu einem Symbol der Öffnung Europas hin zu anderen Kulturen geworden.
6. April 1914
Für Macke, der schon wenige Monate später an der Kriegsfront stirbt, ist die Verarbeitung der Eindrücke dieser Reise die letzte Kunstäußerung. Er schildert die verwirrende und schillernde Üppigkeit des Alltagsdekors als ein Idyll. Maghreb erscheint ihm als ein Ort, an dem der Mensch, seine städtische Umwelt und die Natur in einer seltenen Harmonie, einer schönen und wohltuenden Atmosphäre lebt.
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Macke in Tunis auf einem Esel reitend, im Hintergrund erkennt man Paul Klee
Für Klee bedeutet die Begegnung mit dem Licht, der Farbe und der Natur Maghrebs der Eintritt in eine andere Welt der Wahrnehmung, für die er bereits vorher durch die Auseinandersetzung mit Kandinsky, mit Matisse, mit den Kubisten und vielen anderen avantgardistischen Tendenzen vorbereitet war. Nun führt ihn vor allem die Architektur, der orientalische Dekor und die Kalligraphie an die Pforten der Abstraktion.
Fünfzehn Jahre nach der Tunesienreise macht sich Klee erneut auf den Weg in den Orient, diesmal nach Ägypten. Die künstlerischen Äußerungen, die mit seinem Aufenthalt zusammenhängen scheinen aber weniger geprägt von der Idee, die gesehene Landschaft in Malerei umzusetzen als vielmehr mit einer theoretischen Auseinandersetzung. Zahlen und ihr Verhältnis zur Wirklichkeit sowie die chiffrierte Struktur der Musik sucht er in seinen abstrahierenden Darstellungen wiederzugeben. Durch seine Zeit als Bauhaus-Lehrer beschäftigt er sich intensiver mit diesen Dingen. Seit man von den ägyptischen Quellen des Pythagoras weiß, ist wohlbekannt, wie wichtig Zahlen für diese Kultur waren.
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Paul Klee, rote und gelbe Häuser in Tunis, 1914,70. (Aquarell und Bleistift auf Papier auf Karton, 21,1 x 28,1 cm, Zentrum Paul Klee, Bern)
Die Wirklichkeit wird in einer Zeichenstruktur aufgelöst, die einer geometrischen Ordnung gehorcht. Doch durch die Farbmodellierung wird die scheinbare Abstraktion wieder zur Realität und die scheinbare Zweidimensionalität gewinnt räumliche Tiefe. Klee schafft ein perfektes Gleichgewicht zwischen dem extrem rationalen Aspekt des Werkes und seiner zugleich besonders großen Sensibilität, wodurch er das Mysterium aufrecht erhält, von dem es umgeben ist.
„Der Ursprung der Moderne“ in Kulturtussi.de:

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