Traum gegen die Wirklichkeit

Fin de Siècle – wir sind am Ende des Jahrhunderts angekommen? Droht der Weltuntergang oder scheint es zumindest an der Zeit, sich des Menschseins bewusst zu werden, sich mit den drängenden Fragen des Daseins zu beschäftigen? In „feinnervig wahrnehmbaren Spuren“ lässt sich eine allgemeine Geisteshaltung der Zeit nachvollziehen, die düstere Vorahnungen beinhaltet. „Lieber Chimären als Realitäten“ forderte André Gide als Identifikationsmuster. Die Maler des Symbolismus einte die Ablehnung der naturalistischen Malweise. Ihre Bilder sind keine Darstellungen von Wirklichkeit, sie zeigen Gemütszustände. Vieldeutige Symbole und alte Mythen gewähren tiefe Einblicke in das Reich der Seele.

Salomé tanzt vor Herodes, 1876, Sammlung Hartford, New York

Zwischen Dekadenz und Okkultismus

Mehrere Seiten in der „Bibel der Dekadenz“, dem Buch Gegen den Strich von Joris-Karl Huysmans, sind der Beschreibung von Bildern des Malers Gustave Moreau gewidmet. Auch in Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit werden Werke des Künstlers besprochen; und nicht zuletzt soll Oscar Wilde seine Salome geschrieben haben, da ihn das Bild der Prinzessin, das Moreau gezeichnet hatte, nachhaltig beeindruckte. Deutlicher kann kaum darauf hingewiesen werden, wie sehr die symbolistische Literatur von der Malerei des Symbolismus beeinflusst wurde. Und natürlich gilt dies auch umgekehrt. Mallarmé, Verlaine, Baudelaire und andere Dichter fanden immer wieder Eingang in die symbolistische Bilderwelt.

Nimmt es da wunder, dass die Symbolfigur der Dichter, Orpheus, eine zentrale Rolle im Werk Gustave Moreaus spielte? Als er im Jahre 1865 das Bild eines Orpheus im Pariser Salon präsentierte, musste er allerdings erläuternde Zeilen hinzufügen – so sehr hatte er sich von der herkömmlichen Bildtradition entfernt. Er präsentierte einen Orpheus, dessen abgetrenntes Haupt, das auf einer Leier ruht – ein Aspekt der mythologischen Geschichte, der so noch nie gemalt worden war und der auf die Zerstückelung des Helden durch die eifersüchtigen Mänaden zurückgeht. In einem anderen Bild stellte Moreau den toten Dichter als androgyne Gestalt dar, die von einem Kentaur aus dem Meer gezogen wird. Die Figur des Androgyn spielte in der Malerei des Symbolismus eine bedeutende Rolle. Zum einen verstehen viele Künstler sie als Idealbild, welches dem antiken Mythos von der einstigen Einheit von Mann und Frau folgt. Zum anderen scheint sich gerade in der androgynen Dichtergestalt das Idealbild des schöpferischen Menschen zu vollenden.

Gustave Moreau gehörte zum Kreis der Anhänger des Rosenkreuzers Josephín Pelladan, der 1892 seine Salons in Paris abhielt. Hier galt der Künstler als Priester eines großen Mysteriums. Moreau, der nur an das glaubte, „was ich nicht sehe und allein an das, was ich fühle“, übernahm diese mystische Weltsicht. Der Künstler schuf seine Werke als Vision einer anderen Welt, die von dämonischen Kreaturen, fremdartigen Landschaften und beunruhigenden Gefühlen geprägt ist. Sie waren gleichsam die Antithese zum vorherrschenden Materialismus in der Dritten Republik und bezogen sich eher auf die Vorbilder der Renaissance als dass sie zeitgenössische naturalistische Tendenzen reflektierten. Der Tod, zumal, wie hier vorgegeben, in androgyner Schönheit, war eines der Themen der symbolistischen Malerei, die sich mit dem Unterbewusstsein und den dort verborgenen geheimen Ängsten auseinandersetzte. Lange vor Freud tauchten psychologisch motivierte Bilder auf. Die Dualität von Tod und Eros, die bereits in der Romantik eine Rolle gespielt hatte, wurde ein zentrales Motiv des Symbolismus.

Das symbolistische Manifest

„Die wesentliche Eigenschaft der symbolistischen Kunst besteht darin, eine Idee niemals begrifflich zu fixieren oder direkt auszusprechen. Und deshalb dürfen die Bilder der Natur, die Taten der Menschen, alle konkreten Erscheinungen in dieser Kunst nicht selbst sichtbar werden, sondern sie werden durch feinnervig wahrnehmbare Spuren, durch geheime Affinitäten zu den ursprünglichen Ideen versinnbildlicht.“ Mit diesen Worten hatte der griechischstämmige Dichter Jean Moréas 1886 das Manifest des Symbolismus in der Zeitschrift Figaro Litteraire beschrieben. Die Abkehr vom Naturalismus und die Hinwendung zu einer Kunst, die das Unbewusste und die nicht sichtbare Welt mit einbezog – hierin besteht der wesentliche Beitrag des Symbolismus zur Moderne. Die begeisterte Rezeption des Symbolismus durch die Surrealisten unterstreicht die Bedeutung dieser Kunstrichtung, die in Frankreich unter dem Einfluss literarischer Strömungen ihren Ausgang nahm, bald aber auf ganz Europa übergriff. Die Künstler des späten 19. Jahrhunderts waren geeint in ihrer Hoffnung auf das Kommen einer „geistigen Epoche“, die ihnen in der speziellen Situation des Fin de Siècle angemessen schien. Der Welt der bourgeoisen Gegenwart fühlten sie sich entfremdet; ihre Gegenwelten waren oft geprägt von religiösen Konzepten.

Arnold Böcklin: Die Toteninsel, Dritte Version, 1883
Öl auf Holz, 80 cm × 150 cm
Alte NationalgalerieBerlin

Arnold Böcklin                       

„Sie werden sich hineinträumen können in die dunkle Welt der Schatten, bis Sie den leisen Hauch zu fühlen glauben, der das Meer kräuselt. Bis Sie Scheu haben, die feierliche Stille durch einen Laut zu stören.“

Dies schrieb Böcklin an seine Auftraggeberin, eine reiche Witwe, für die er die zweite Version seines Gemäldes Die Toteninsel geschaffen hatte. Das Gemälde, das Böcklin 1880 auf Bestellung des Böcklin-Förderers Günther Alexander erstmals begonnen hatte, gilt als Höhepunkt der Seelenlandschaften, die ein häufiges Motiv in der melancholischen Malerei des Symbolismus darstellen. Insgesamt hat Böcklin fünf Fassungen des Bildes geschaffen, für das der damals in Florenz lebende Künstler vermutlich die romantische Insel Capri als Vorbild genommen hatte. Zunächst legte er das Motiv ohne jene weiße Gestalt an, die später den Sarg in einem Boot über das Wasser zur Insel geleiten und das Geschehen in der antiken Mythologie verankern sollte. Ab der dritten Fassung, die er für seinen Galeristen Fritz Gurlitt anfertigte, ergänzte Böcklin auch seine Initialen, die er in den Türsturz des einem Mausoleum ähnlichen Gebäudes integrierte – eine deutliche Auslegung des Bildes als Memento mori. Wie beliebt dieses Motiv in der Folgezeit wurde, zeigt die Tatsache, dass das Kunstmuseum in Leipzig 1886 eigens eine Fassung bestellte. Über den Symbolcharakter des Motivs hinaus stellt sich das Bild in den Zusammenhang eines synästhetischen Erlebnisses, bei dem die Erfahrung der Stille im Vordergrund steht. Auch die Umsetzung des Bildes in Werken von Komponisten wie Max Reger macht dies deutlich. Die Synästhesie als Korrespondenz zwischen Innen- und Außenwelt wurde in der symbolistischen Malerei besonders gepflegt.

Die besondere Stimmung auf dem Bild, die Böcklin auch in anderen – eher düsteren – Landschaftsbildern zu evozieren wusste, bietet den Betrachtenden die Möglichkeit zur mitfühlenden Anschauung. Sie ist eine Art Maßstab, an dem gemessen die Bedeutung der Natur herausgestellt wird. Deren göttliche Macht wird in pantheistischer Weise reflektiert, ein Ansatz, der sich auch bei Caspar David Friedrich findet und der deutlich macht, wie eng die Symbolisten mit den Grundzügen der Romantik verbunden waren.

Auf die Frage nach der Bedeutung der Toteninsel antwortete Böcklin einst, dass er keine Bilderrätsel male, das Bild sei also das, was man sehe. Zwei Jahre nach der letzten Fassung malte Böcklin die Lebensinsel als eine Art Gegenentwurf, der jedoch kaum in vergleichbarer Weise als Landschaft der Seele funktioniert – scheint doch das düstere Moment der Melancholie ein wesentliches Merkmal der symbolistischen Malerei zu sein.

Fernand Khnopff: Die Kunst oder Die Liebkosungen, 1896, Musées Royaux des Beaux-Arts, Brüssel

Fernand Khnopff

Das Melancholische, das Introvertierte, das Verschlossene ist ein Motiv, das sich auch häufig in den Bildern des belgischen Symbolisten Fernand Khnopff auffinden lässt. Eine Zeile aus einem Gedicht von Christina Rossetti, der Schwester des präraffaelitischen Malers, beeindruckte Khnopff nachhaltig: Ich schließe mich in mich selbst ein ist der Titel eines Gemäldes aus dem Jahr 1891, das eine Vielzahl von rätselhaften Andeutungen in einer bildlichen Collage zusammenführt. Khnopff, dessen Hauseingang die Worte „On n’a que soi“ (Man hat nur sich selbst) zierten, lebte als introvertierter Dandy in der Kunstszene Brüssels. In seinem Atelier befand sich auf dem Boden ein goldener Kreis, der ihm zur Meditation diente, man hörte von spiritistischen Séancen, an denen der Künstler häufig teilnahm. Im Hintergrund des irritierenden Bildes I lock my door upon myself ist die Maske des Hypnos, des Gottes des Schlafes, zu sehen. Sein Bruder ist Thanatos – der Tod. Schlaf, Traum, Trance – diese Topoi ziehen sich durch viele Bilder des belgischen Symbolisten. Aber nicht nur bei Khnopff, auch bei anderen Künstlern war die Darstellung Schlafender ein beliebtes Motiv. Ferdinand Hodler gelang es, die Schwingungen des Traumhaften in die nervöse Umrisslinie seines speziellen Stils zu übertragen. Mohnblüten begleiten den Traum, der somit etwas Rauschhaftes erhält. Bei der seltsam in sich versunkenen Gestalt von Leightons Flaming June spielt die Ergründung des Unterbewusstseins eine Rolle, wie sie C. G. Jung als Aufgabe des Schlafes sah. Seltsam muten dabei die überlangen Haare an, auf denen  die schöne Femme fragile ruht.

Das Symbol als Darstellung von etwas, das keine greifbare Form besitzt – bei Fernand Khnopff scheint diese Bildformel besonders ausgeprägt zu sein. „Kann es sein, wie Skeptiker behaupten, dass jedem Kunstwerk nichts anhaftet als das, was wir selbst darin finden; dass wir es nicht aufgrund seiner inneren Werte bewundern, sondern weil es bestimmten unserer eigenen Gefühle entspricht und wir in ihm nur ein Spiegelbild unserer Seele suchen?“ Mit der Verunklärung und Verrätselung seiner Bilder begab sich Khnopff auf eine andere Ebene der Darstellung. In manchen seiner Bilder erscheint seine Schwester Marguerite in durchscheinend immateriellen Gewändern, fast so, als sei sie ein Medium aus einer anderen Welt. Der spezielle androgyne Frauentypus, den seine Schwester verkörperte und der sich auch schon in den Bildern der Präraffaeliten fand, wurde zum Markenzeichen des Belgiers. Mit seinem berühmtesten Werk Liebkosungen reüssierte er 1898 auf der ersten Ausstellung der Wiener Secessionisten, wo Künstler wie Gustav Klimt sich unmittelbar beeindruckt zeigten. Der Einfluss Khnopffs auf die Werke Klimts ist unübersehbar. Obwohl Khnopff oftmals nach fotografischen Vorlagen arbeitete, lag ihm nichts ferner als eine naturalistische Sicht der Welt. Selbst die Stadtansichten seiner Heimatstadt Brügge gerieten ihm zu symbolistischen Chiffren, bei denen man hinter den Kirchtürmen und den Kanälen schreckliche Geheimnisse erwartet. Ein Bild, das bis zu seinem Tod 1921 niemals das Atelier verließ, ist die Schlafende Medusa von 1896. Ein ungewöhnliches Gemälde, das so gar nichts von der todbringenden Gefährlichkeit der Medusa in sich trägt. Vielmehr ist hier die Ruhe und Stille der schlafenden Figur das Hauptmotiv vor einem idealistischen ‚ewigen’ Horizont. Der spirituelle Rückzug im Zustand des aktiven Schweigens – ganz so, wie ihn die Meditation verlangt – scheint gesteigert vor dem Hintergrund der seltsamen Ikonographie der Medusendarstellung.

„Sobald die Lippen schlafen, erwachen die Seelen und begeben sich an die Arbeit; denn das Schweigen ist jenes an Überraschungen, Gefahren und Glück reiche Element, in dem sich die Seelen frei besitzen.“ Maurice Maeterlinck, Der Schatz der Armen, 1892

Die Suche nach dem verlorenen Paradies

Die Gruppe der Nabis, der Erleuchteten, hatte sich 1888 zusammengefunden, um die Kunst unter dem Einfluss theosophischen Gedankenguts voranzubringen. Künstler wie Maurice Denis oder Paul Sérusier folgten der Idee einer allumfassenden Bruderschaft der Menschheit, eine Idee, die auch Künstler wie Paul Gauguin nachhaltig beeinflusste. Gauguin, der sich bereits länger mit dem Wunsch beschäftigte, in den Tropen zu leben, brach 1891 zu seinem Südsee-Traum auf. Nachdem er 1888 bereits mit Bildern wie Jakobs Kampf mit dem Engel eine Hinwendung zu deutlich religiös motivierten Themen vollzogen hatte, lieferte Gauguin aus der Südsee nun Werke, die zeigten, wie sehr er die Malerei als Fortsetzung des Schöpfungsgedankens wahrnahm. Sein wohl eindringlichstes Beispiel dieser neuen Religiosität und gleichzeitig ein wegweisendes symbolistisches Bild ist das Monumentalwerk Woher kommen wir? Was sind wir? Wohin gehen wir?, das er 1898 kurz nach einem schweren Herzanfall und unmittelbar vor einem Selbstmordversuch innerhalb von nur wenigen Wochen gemalt hatte. Zeitgleich erschienen die Lebenserinnerungen des Künstlers, so dass der Eindruck entsteht, es handle sich bei dem fast vier Meter langen Bild um eine Art Vermächtnis des Künstlers. Von rechts nach links gelesen, stellt dieses Bild eine visionäre Mischung aus Vergänglichkeit und Hoffnung dar, die zum einen im christlichen Schöpfungsmythos verankert scheint, zum anderen aber auch tahitische Mythen aufgreift.

Was Gauguin in der exotischen Welt der Südsee suchte, mag den italienischen Maler Giovanni Segantini in die Einsamkeit der Schweizer Bergwelt getrieben haben: die Suche nach Erneuerung, Inspiration und Anregung. „Voglio vedere le mie montagne“ waren 1899 angeblich seine letzten Worte, als er oben auf dem Schafberg von einer Bauchfellentzündung dahingerafft wurde. Dies geschah mitten in der Arbeit zu einem wahren Programmbild des 19. Jahrhunderts, welches zur Weltausstellung 1900 fertig sein sollte. Die Natur, der Zyklus der Jahreszeiten, in einem Triptychon festgehalten, war eine pantheistische Vision des Lebens. Einfach, ohne Pathos, wollte er die Größe der Natur und des Lebens an sich darstellen: Werden – Sein – Vergehen, der Titel des später als „Alpentriptychon“ bekannt gewordenen Werkes zeigt die Bedeutung der Landschaft als Symbol für das Leben. Segantini, der auch dunkle Themen wie „die bösen Mütter“ aufgriff, war ein Maler des Lichts, das er in seiner symbolistischen Phase gleichsam nicht mehr unter divisionistischen Aspekten einsetzte, sondern das ihm wie ein Heilsversprechen des göttlichen Lichtes erschien. In einer Zeit, in der die Aufklärung die Religion zu einem Gefühl gemacht hatte, das individuelle Züge annehmen konnte, lieferte die bildende Kunst neue „Altarbilder“ für pantheistische oder theosophische Vorstellungen. Die Vorstellung von paradiesischer Unschuld und Visionen von einem kommenden goldenen Zeitalter prägten den Ausdruck.

Toorop, Jan Die Drei Bräute, 1893
Bleistift, Kohle und Farbe auf Papier
Rijksmuseum Kröller-Müller

Auch der Niederländer Jan Toorop schuf symbolistische Werke, die geprägt waren von einer neuen Religiosität. Der Künstler, als Sohn protestantischer Holländer auf Java geboren, konvertierte 1905 zum Katholizismus. Sein Schutzengel scheint indes ein anderer zu sein als der Engel der Liebe, den Segantini in die Weite der Bergwelt setzte. Bei Toorop sehen wir einen majestätischen Engel, auf der Brust deutet sich das Freimaurer-Zeichen an, und die weit schwingenden Flügel breiten sich schützend über die Mutterfiguren an den Seiten aus.

Dunkle Mächte und verstörende Gefühle auf der einen Seite – Lichtmythen und religiöse Erweckungsmythologien auf der anderen. Die Themenvielfalt der symbolistischen Malerei ist so groß wie die stilistischen Ausprägungen zahlreich sind. Wie für den Jugendstil als Epochenphänomen gilt auch hier die Verbindung zu den geistigen Strömungen der Zeit, sei es in der Literatur oder in Philosophie und Religion. Der Schlussakkord des Jahrhunderts, den eine dekadente Todessehnsucht begleitet, ist auf der anderen Seite auch der Ruf nach Erneuerung in der Moderne. Die Welt des Unbestimmbaren, die menschlichen Gefühle, der visionäre Charakter, all dies sind die Merkmale, mit denen avantgardistische Kunstrichtungen wie Expressionismus und Surrealismus wenig später den Beginn einer neuen Zeit feierten.

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