Foto: (c) Fundaziun Nairs Scuol Engiadina
Eigentlich bin ich zur Zeit im Urlaub. In Scuol, einem Ort in den Schweizer Bergen, den ich nun schon zum fünften Mal besuche. Ich kann nicht genug bekommen von der Natur, den Bergen, der frischen Luft. Und es gibt hier zudem interessante Kulturorte, die ich mit wachsender Begeisterung entdecken darf. Einer davon ist NAIRS . Das Zentrum für Gegenwartskunst, das etwas außerhalb von Scuol im Tal direkt am eisblauen Inn gelegen ist. Kunst in Graubünden – mein ganz besonderes Urlaubserlebnis.
Eine historische Kuranlage schmiegt sich unweit von Scuol in das Tal. Vor 100 Jahren schätzte man die Tallage und baute dort palastartige Hotels – heute sind die Sonnenanbeter ja eher oben auf dem Berg zu finden. Da hier im Engadin an jeder Ecke wohltuende Mineralwässer aus der Erde sprießen, entstand das bemerkenswerte Architekturensemble eines vornehmen Hotels plus Badehaus und Trinkhalle. Und in eben diesem Badehaus hat das Kulturzentrums NAIRS seinen Platz. An diesem Ort findet heute ein reger Austausch zwischen nationalen und internationalen Künstlern statt – ein „Ideenlabor zwischen Natur und Kultur“ wie es die Macher so treffend ausdrücken.
Mit war es schon bei meinen letzten Besuchen dort aufgefallen: die Umgebung der Engadiner Bergwelt hat eine starke Wirkung auf die Künstler. Immer wieder gibt es Arbeiten zu bestaunen, die sich mit Flora und Fauna der Gebirgslandschaft auseinandersetzen. Die zum Teil im Originalzustand belassenen Räume des alten Badehauses tun ein Übriges dazu. Vom Keller bis zum geheimnisvollen Dachboden lebt und atmet das alte Haus Kunst und Kreativität. Mit einem hervorragenden Programm zur Kunstvermittlung hat das Zentrum mittlerweile über die Grenzen des Engadin hinaus eine große Bedeutung erlangt.
_Führung mit dem künstlerischen Direktor von NAIRS, Christof Rösch. Foto: (c) Fundaziun Nairs Scuol Engiadina
Wir hatten Glück, dass wir genau richtig zum Tag der Offenen Ateliers in Scuol eintrafen und so auch die Künstlerin Agnieszka Kozlowska erleben konnten. Sie ist bereits zum dritten Mal in NAIRS und hat seit mehreren Jahren ein spannendes Forschungsprojekt verfolgt, welches sie uns an diesem Tag präsentiert.
Im Keller entdecken wir einen abgedunkelten Raum. Als wir ihn betreten, bemerke ich dort einen ungewöhnlichen Duft. Es riecht nach frisch gemähten Heuwiesen. Ich kann mir das nicht erklären und wende mich zunächst der Installation zu, die in einer hinteren Ecke des Kellers hängt. Es sind weiße Stoffbahnen und nachdem wir das Licht gelöscht haben, werden wir Zeuge, wie auf diesen wie aus dem Nichts plötzlich Bilder auftauchen. Vom Himmel draußen. Vom Fluss, der nur einige Schritte vor dem Haus vorbeirauscht und vom gegenüberliegenden Hotel. Wir stehen in einer großen Kamera obscura! Die Fenster sind verdunkelt und mit kleinen Linsenöffnungen versehen. Draußen gibt es Spiegel. Ich spüre die alte menschliche Faszination für die Magie der Fotografie. Die Installation ist jedoch nur ein kleiner Teil der Arbeiten von Kozlowska, die hier im Artists-in-Residence-Programm vom NAIRS über mehrere Monate arbeitet.
Agnieszka Kozlowska hat Fotografie in Polen und England studiert und schließt gerade ihre Doktorarbeit zu einem besonderen Forschungsprojekt ab. „Taking Photographs Beyond the Visual: Paper as a Material Signifier in Photographic Indexicality“. Dahinter verbirgt sich ein fotografisches Experiment, in welchem die Künstlerin in einem längeren Prozess die Photographie als ein physikalisches Objekt begreift. Die Arbeiten entstehen vor Ort in den Schweizer Bergen, in die sie eine ausgedehnte Wanderung unternimmt. Dort stellt sie in einem aufwendigen Arbeitsgang ein besonderes Papier her. Es wird aus dem Gras der Bergwiesen gemacht, welches sie kocht, zu einem Brei vermahlt und anschließend auf ein simples Netz ausstreicht. Dann baut sie mit einfachsten Mitteln eine Kamera, die sie zum Horizont ausrichtet. Dieses Konstrukt überlässt sie nunmehr für eine Woche sich selbst, um dann wieder herauf zu wandern und das Ergebnis in Empfang zu nehmen.
Agnieszka Kozlowska, Lai Blau im Val Tuoi, Richtung Piz Fliana, Schweiz, 2620 m, 14 – 25 Juli 2013 (c) courtesy of the artist
Was wir zu sehen bekommen, ist verblüffend. Als die Künstlerin die einzelnen Blätter vor uns ausbreitet, weiß ich plötzlich auch, woher der intensive Geruch im Keller stammt. Vor uns liegen simple Fotografien – Horizontlinie und Himmel sind schwach zu erkennen. Und eine seltsame Spur, die sich einmal quer durch das Bild zieht. Das stammt von der Sonne, erklärt die Künstlerin. Ihre Idee, eine unmittelbare Übereinstimmung von visueller Repräsentation und dem Gegenstand zu erreichen, scheint mir in diesem Detail besonders gut nachvollziehbar.
In den Zeiten, da jeder ohne Nachzudenken seine Handykamera zückt und abdrückt, offenbart sich in dieser Arbeit etwas ganz Besonderes. Diese Befragung dessen, was Prozesse von Bild und Abbild sein können, regen mich zum Nachdenken an. Es hat etwas von Entschleunigung und man fühlt sich an die Anfänge der Kunst zurückgeführt. Der Text von Walter Benjamin zum Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit fällt mir ein. Aus irgendeinem Grund muss ich an Platos Höhlengleichnis denken. Es steckt etwas Mythisches und Archaisches in diesen Objekten.
Die Künstlerin beschäftigt sich auch mit den Eigenschaften von Papier und hat zahlreiche europäische Papiermühlen besucht. Sie habe zunächst sogar mit Chemikalien versucht, die Gräser empfindlicher zu machen, damit sie als Fotopapier taugen. Dann hat sie festgestellt, dass es gar nicht notwendig ist und die besten Ergebnisse mit naturbelassenem Gras entstanden. Diese zarten poetischen Artefakte sind nun tatsächlich der perfekte Extrakt einer traumhaften Engadiner Landschaft, die ich noch bis zum Ende der Woche genießen darf!
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