Weniger ist mehr


Ein Fernsehbeitrag über das Schicksal eines architektonischen Schätzchens, das im tschechischen Brünn dem Verfall anheim gegeben wird, wenn nicht ganz schnell jemand einschreitet, rief mir den kongenialen Wegbereiter der modernen Architektur wieder ins Gedächtnis. Mies van der Rohe, der sich von Aachen aufmachte, die Welt zu erobern, der über das Bauhaus bis in die heutige Zeit hinein wirkt (Rechtestreitigkeiten einbegriffen) gehörte zu Architekten, die sich was trauten. Bis in die kleinsten Entwürfe hinein spürt man seinen Willen zur Konsequenz in der Reduktion der Formen auf das Wesentliche.
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Eine Trinkhalle, die leider in den siebziger Jahren abgerissen wurde, zeigt diese Wirkung besonders schön. Es blieb der einzige Bau des Architekten in Dessau, den er in der Nähe der von Walter Gropius gebauten Meisterhäusern installierte. Wie Walter Gropius so hatte auch Mies van der Rohe mit einer völlig neuen Dimension seine architektonischen Entwürfe dem Zeitgeist angepasst. Er experimentierte sogar mit Einsteins Relativitätstheorie und beschäftigte sich mit dem Faktor Zeit im Zusammenhang mit dem Erleben von Architektur.
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Der 1929 für die Weltausstellung in Barcelona entworfene Pavillon zählt zu den Schlüsselbauten der modernen Architektur. Hier hat der amerikanische Fotokünstler Jeff Wall eine ganz eigene Inszenierung des coolen Baus aufgenommen.
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Wichtig war Mies van der Rohe die Idee des Gesamtkunstwerks, ganz im Sinne der bauhausschen Tradition. So bildet der Pavillon eine Einheit mit der umgebenden Bepflanzung und bietet in der Innenausstattung dieselben konsequenten Stilrichtungen, die bis heute in das Möbeldesign hineinwirken.
Seinen Weg zum Vordenker der modernen Nachkriegsarchitektur nahm Mies van der Rohe über einige zaghafte Versuche, in Deutschland nach der Machtergreifung Hitlers weiter arbeiten zu können später mit der Emigration in die USA. Dort wurde er von Frank Lloyd Wright zunächst euphorisch unterstützt:
„…Meine Damen und Herren, ich gebe ihnen Mies van der Rohe. Ohne mich gäbe es keinen Mies- ganz gewiß nicht hier und heute. Ich bewundere ihn als Architekt, respektiere ihn als Mensch. Ar­mour Institute, ich gebe dir Mies van der Rohe. Behandle ihn gut und liebe ihn so wie ich. Er wird es dir vergelten. (Ihr braucht ihn, weiß Gott!)“
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Seine erste Arbeit in den USA, die Illionois Technik Hochschule
Mies van der Rohe hat in zahlreichen Texten die Philosophie seines Bauens hinterlassen. Hier wird deutlich, wie ganzheitlich der Begriff „Architektur“ von ihm gedacht wird.

„Durch Vermittlung des erforderlichen Wissens und Könnens will die Baulehre der Architekturabteilung Architekten heranbilden; durch seine Erziehung aber den Menschen formen, ihn befähigen, von dem erworbenen Wissen und Können den rechten Gebrauch zu machen. Die Lehre zielt daher auf Zwecke, die Erziehung aber auf Werte. Denn der Sinn der Erziehung ist, zu bilden und zu verpflichten. Sie soll der Unverbindlichkeit der Meinung die Verbindlichkeit der Einsicht entgegenstellen, aus dem Bereich des Zufalls und der Willkür in die klare Gesetzmäßigkeit einer geistigen Ordnung führen. Baukunst wurzelt mit ihren einfachsten Gestaltungen noch ganz im Zweckhaften, reicht aber hinauf über alle Wertstufen bis in den höchsten Bereich geistigen Seins, in die Sphäre der reinen Kunst. Von dieser Einsicht muß jede Baulehre ausgehen. Schritt für Schritt soll sie deutlich machen, was möglich, notwendig und was sinnvoll ist. Daher sind die einzelnen Unterrichtsgebiete so miteinander verbunden, daß sie auf jeder Stufe eine organische Ordnung ergeben und die Studierenden immer das ganze Gebiet des Bauens in seinem vollen Zusammenhänge kennen und bearbeiten lassen.Neben der wissenschaftlichen Ausbildung sollen die Studierenden zunächst zeichnen lernen zur Beherrschung der technischen Ausdrucksmittel und zur Schulung von Auge und Hand. Durch Übungen soll ihnen ein Gefühl für Proportion, Struktur, Form und Material übermittelt, ihr Zusammenhang und ihre Ausdrucksmöglichkeit geklärt werden. Dann sollen die Studierenden mit den Materialien und Konstruktionen einfacher Holz-, Stein- und Ziegelbauten bekannt gemacht werden; anschließend daran mit den konstruktiven Möglichkeiten des Eisen- und Eisenbetonbaus. Gleichzeitig sollen sie dabei den sinnvollen Zusammenhang dieser Elemente des Bauens, ihren unmittelbaren formalen Ausdruck kennenlernen. Jedes Material, gleichgültig, ob natürliches oder künstliches, besitzt besondere Eigenschaften, die man kennen muß, um mit ihnen arbeiten zu können. Neue Materialien und auch neue Konstruktionen sichern an sich noch keine Überlegenheit. Entscheidend ist der rechte Umgang mit ihnen. Jeder Stoff ist nur das wert, was man aus ihm zu machen versteht. Der Erkenntnis der Materialien und Konstruktionen schließt sich die der Zwecke an. Sie sollen klar analysiert, ihr Inhalt erkannt werden. Es soll anschaulich gemacht werden, warum und worin sich eine Bauaufgabe von der anderen unterscheidet; worin ihr wirkliches Wesen besteht. Eine Einführung in die Probleme des Städtebaues soll deren Grundlagen übermitteln und die Verbundenheit allen Bauens, seine Beziehungen zu dem städtischen Organismus deutlich machen. Zuletzt und als Synthese der ganzen Lehre erfolgt eine Einführung in die künstlerischen Grundlagen des Bauens, in das Wesen des künstlerischen, die Art und Anwendung seiner Mittel und seine Verwirklichung im Bauwerk. Im Zusammenhang mit dem Studium soll aber auch die geistige Situation unserer Epoche, in deren Abhängigkeit wir uns befinden, geklärt werden. Es soll erforscht werden, worin unsere Epoche mit den früheren übereinstimmt und worin sie sich in materieller und geistiger Hinsicht unterscheidet. Darum sollen auch die Bauten der Vergangenheit studiert, eine lebendige Anschauung von ihnen vermittelt werden. Nicht nur um an ihrer Größe und Bedeutung einen architektonischen Maßstab zu gewinnen, sondern auch der Einsicht wegen, daß sie an eine bestimmte unwiederholbare historische Situation gebunden sind und daher zu eigenen schöpferischen Leistungen verpflichten.

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