Robert Rauschenberg und die Beat Generation


Robert Rauschenberg gilt als einer der Hauptvertreter der amerikanischen Kunst des 20. Jahrhunderts und ist seit den sechziger Jahren ein Superstar der internationalen Kunstszene.Im legendären Black Mountain College lernte Rauschenberg in den fünfziger Jahren mit John Cage (Musiker) und Merce Cunningham (Tänzer, Choreograph) die beiden zentralen Figuren der Avantgarde der 50er Jahre kennen. Sie bildeten die Basis für eine neue Ästhetik, die sich vor allem durch Motive der Spontaneität und des Zufalls auszeichnete und im Folgenden zur Erweiterung des Kunstbegriffs, zu der Erfindung von „Happening“ und „Performance“ führen sollte. Diese Anregungen griff Robert Rauschenberg auf und verschmolz in seinen Arbeiten Malerei mit Skulptur, Fotografie, Theater und Musik. Seine Arbeiten scheinen alles zu verbinden – den Alltag, die Kunst, das Leben – sie sind perfekter Ausdruck des Zeitgefühls jener Generation, zu der auch die Beat-Autoren ihren Beitrag geleistet haben.Mitte der 80er Jahre kam es zu einer direkten Zusammenarbeit von R. Rauschenberg und William S. Burroughs. Rauschenberg schuf Lithographien, in die einzelne Sätze des Dichters mit Prägedruck eingefügt wurden.

Die Beat Autoren waren eine Gemeinschaft von Schriftstellern und Lebenskünstlern, die einer ihrer Protagonisten – Jack Kerouac – einmal folgendermaßen beschrieb: „Angehörige der Generation, die nach dem zweiten Weltkrieg volljährig wurden und sich, angeblich als Folge einer Desillusionierung durch den Kalten Krieg, einer mystischen Distanz und der Lockerung sozialer und sexueller Spannungen verschrieben“ (Kerouac in Watson, 1995). Neben Kerouac, der 1957 mit seinem Roman „On the Road“ die „Bibel“ der Beat Generation verfasste, gehörten William S. Burroughs und Allen Ginsberg zu den wichtigsten Vertretern dieser Autorengruppe. „Ich kann’s nicht glauben, aber wir drei sind bereits der Kern eines absolut neuen, historisch wichtigen amerikanischen Schaffens“ (Ginsberg in Watson 1995:6). So sehr diese Anmerkung Ginsbergs in einem Brief an Kerouac nach Selbstüberschätzung klingen mag, so ist es doch die Wahrheit. Es hatte sich eine neue amerikanische Literaturszene gebildet, die ebenso wie die Kunst dieser Jahre zu einer neuen nationalen Identität gelangen wollte. Eines der wesentlichen gemeinsamen Merkmale nicht nur von Kunst und Literatur, sondern auch von Theater und Musik ist die „Heiligsprechung des spontanen Prozesses“: „Pollocks Dripping-Verfahren; das Aufkommen des Method-Acting am Actor’s Studio; (…) das erste ‚Happening’ am Black Mountain College“ (Watson 1995: 145). Aus dieser Warte lässt sich in der Gegenüberstellung von Literaturzitaten und Kunstwerken ein umfassendes Bild von der amerikanischen Kultur nach dem Zweiten Weltkrieg nachzeichnen.

Ab Mitte der fünfziger Jahre entstehen die von Rauschenberg als „Combines“ bezeichneten Werke, in denen er die Malerei mit Objekten „kombinierte“ und so in den dreidimensionalen Raum erweiterte. Die Beschäftigung mit Fundstücken, Material des Alltäglichen, hat ihn in einer Werkphase beeinflusst, in der er sein Atelier mitten in New York aufgeschlagen hatte. Es entstanden die so genannten „Elemental Sculptures“, experimentelle Arbeiten aus Pflastersteinen und anderen Fundmaterialien, die er in der unmittelbaren Umgebung seines Ateliers vorfand. Die Skulpturen stehen zwischen „ready mades“ und dadaistischen Assemblagen, wobei Rauschenberg die Eigenheit dieser Fundstücke betont und er sie nicht in eine Kontextverschiebung umwerten will.
Bei den „Combines“ unterscheidet Rauschenberg die „combine paintings“ und die freistehenden „Combines“ wie z.B. „Odalisque“ aus dem Jahre 1955/58. Dieses Kunstwerk besteht aus einem hochrechteckigen Holzkasten, Stoff, Draht, Gras, Papier, Photos, Metall, Kissen, vier Glühlampen und einem ausgestopften Leghornhahn. Der Titel „Odalisque“ bezieht sich auf die Tradition der Darstellungen von Haremsdamen in der Kunstgeschichte, besonders auf des Bild von Jean-Auguste Dominique Ingres aus dem Jahre 1808. Das Motiv hat schon im frühen 19. Jahrhundert den erotischen Anklang, den Rauschenberg hier nochmals mit dem Kissen zitiert. Diese Grundsituation nimmt er als Rahmen für die unterschiedlichsten Versatzstücke aus der unmittelbaren Lebenswelt der fünfziger Jahre. Die Abbildungen von „Pin-up-Girls“ weisen ebenso den Weg wie die Zeitungsfotos von „Sportsmännern“. 1958 hat Rauschenberg die Installation durch Glühbirnen im Inneren des Kastens ergänzt, die durch ihr An und Aus die Assoziationen in Richtung Peepshow, Rotlichtmilieu etc. lenken und die erotische Grundstimmung verstärken. Rauschenberg nutzte hier die Glühlampe auch als Möglichkeit, Technik im Wirkungskreis von Kunst experimentell einzusetzen. Später wird er sich noch intensiver mit diesem Thema auseinandersetzen und zusammen mit einigen Ingenieuren E.A.T. (Experiments in Art and Technology) gründen.

Die Öffnung des Kastens wird mit einem durchsichtigen Stoff geschlossen – das Motiv des Schleiers ist im Zusammenhang der erotisch-exotischen Ausstrahlung der Haremsdame von Bedeutung. Rauschenberg wird aber die sinnlich-ästhetische Qualität des Arbeitens mit durchsichtigen Stoffen auch in anderen Arbeiten weiter nutzen.
Die direkte Wirkung der „Combines“ durch die eingearbeiteten Fundstücke, Zeitungsausschnitte, Familienfotos etc. war im „Dialog der Künste“ der Ausgangspunkt für die Verbindung zu zwei Gedichten, die vor dem Objekt rezitiert wurden.

Der rote Handkarren
so viel hängt ab
von
einem roten Handkarren
nass mit Regen-
wasser
bei den weißen
Hühnern

Das Gedicht aus den zwanziger Jahren von William Carlos Williams leistet mit seiner Erwähnung der weißen Hühner zunächst einmal auf einer ganz banalen Ebene die Verbindung zu dem verwendeten Material der Rauschenberg-Arbeit. In einem weiteren Schritt kann jedoch die Verbindung hergestellt werden zu derselben Idee der Wirklichkeitswahrnehmung. Sowohl bei der Dichtung als auch in der bildenden Kunst greifen die gleichen Strukturen. Williams hatte in seinem Gedicht aussagekräftige Details des Alltags kombiniert und anhand von Worten bestimmte Bilder mit der Realitätserfahrung verbinden wollen. Seine Dichtung definiert den Anfangspunkt einer Entwicklung innerhalb der amerikanischen Literaturgeschichte, in der er gemeinsam mit Ezra Pound auf der Suche nach einer ureigenen amerikanischen Ästhetik in der Dichtung war. Dabei spielte für beide die Fähigkeit der Worte eine Rolle, konkrete Bildempfindungen ins Bewusstsein zu rufen. Ähnlich geht Robert Rauschberg in seinen Werken vor, bei denen die Hervorbringung konkreter Wirklichkeit über die Materialästhetik erreicht wird.
Mit Williams wurde im Dialog mit dem Kunstwerk sozusagen der Wegbereiter der Beat Generation präsentiert. Dennoch sollte auch eine entsprechende Textidee aus der gleichen Zeit neben das Kunstwerk gestellt werden. 1954 versuchte Allen Ginsberg die Schreibtechnik William Burroughs‘ zu beschreiben und verfasste hierzu ein Poem:

Reality Sandwiches
The method must be purest meat
and no symbolic dressing
actual visions & actual prisons
as seen then and now.
Prisons and visions presented
With rare descriptions
corresponding exactly to those of Alcatraz and Rose.
A naked lunch is natural to us,
we eat reality sandwiches.
Butt allegories are so much lettuce.
Don’t hide the madness.

Die einzelnen Materialien, mit denen Rauschenberg seine “Odalisque” erschaffen hat, stehen ohne “symbolic dressing” für das, was sie sein sollen. Die verwendeten Gegenstände werden nicht umgedeutet, sondern verweisen uns auf die Alltagsrealität, die hier zu einem bestimmten Thema – Mann und Frau, Sexualität – aus vielen Versatzstücken zusammengetragen wurde.

Nachdem er einige Zeit mit einem Transfer-Verfahren experimentiert hatte, bei welchem er seine Motive aus Zeitschriften, Fotos etc. mit einem speziellen Lösungsmittel einrieb und dann manuell auf einen Bildträger umdruckte, entdeckte Rauschenberg 1962 die Vorteile des kommerziell genutzten Siebdruckverfahrens für seine Kunst. Beeinflusst wurde diese Technik sicherlich durch das Vorbild Andy Warhols, der sie als erster Künstler aus der Welt der Werbung und der Massenmedien übernahm. Das Siebdruckverfahren bot Rauschenberg den Vorteil, dass er die Motive beliebig vergrößern und kombinieren konnte. Außerdem war die Transfer-Technik durch das giftige Lösungsmittel nicht ganz unproblematisch. Er entwickelte mit seinen Sieben ein Motivrepertoire, das er nach Bedarf kombinierte: Männer in Aktion (Sportler, Astronauten, Arbeiter); das Fliegen (Vögel, Moskitos, Hubschrauber); Bewegung (Lastwagen, Autos); Kommunikation (Diagramme, Pläne, Antennen); Raumfahrt (Astronauten, Raketen); Natur (Wolken, Meer); Stadt (Architektur, Straßenschilder); Kunstgeschichte (Venusdarstellungen von Velázquez und Rubens); eine Besonderheit stellte das Porträt John F. Kennedys dar, das er kurz vor dem Dallas-Attentat als Vorlage erstellte und das er trotz Kennedys Tod in einigen Bildern ganz bewusst eingesetzt hat. Nach der Verleihung des Großen Preises der Biennale in Venedig im Jahre 1964 ließ Rauschenberg sämtliche bis dahin entstandenen Siebe (gut 150 Stück) vernichten, um sich nicht der Gefahr der Selbstwiederholung auszusetzen.
Das weitaus größte seiner „Combines“ ist das fast 10 Meter lange Bild „Barge“. Es ist innerhalb nur weniger Stunden während der Aufnahmen zu einer CBS-Fernsehdokumentation entstanden.

„Ich war irgendwann an einem Nachmittag bei Jim Dine im Studio. Ich war sehr aufgedreht – einfach voller Ideen. Die Arbeit, die er gerade machte, steckte mich an, und ich wollte auch etwas machen. Ich wollte etwas ganz Phantastisches machen. Deswegen bin ich in halsbrecherischer Geschwindigkeit zu Rosenthal gelaufen, was ungefähr fünf Straßen entfernt war. Ich habe dort auf Kredit die größte Rolle Leinwand, die sie hatten, gekauft. Ich nahm sie mit nach Hause – damals wohnte ich noch auf dem Broadway – spannte sie auf die Wand und begann zu arbeiten. Das war der Anfang von „Barge“. Am nächsten Tag war ich bei der Mike Wallace Show im Fernsehen. Ich dachte eigentlich, dass das Interview ganz gut war, aber er ist danach noch mal ins Studio gegangen und hat alle Fragen geändert. Ich glaube, das war ziemlich mies. Bei den Filmaufnahmen malte ich, und jedes Mal, wenn ich eine Pause machte, wurden mir Fragen gestellt: warum ich was machte, worauf das hinausläuft, und was es ist. Ich hasse solche Fragen. Deswegen habe ich einfach weitergemalt. Ich hatte einen großen Industrie-Fön, damit die Farben trockneten, während ich arbeitete – ich konnte also direkt weitermachen – aber ich konnte den Fön nicht anlassen, weil das die Aufnahmen störte“ (Rauschenberg im Interview mit B. Rose 1989: 121).

Besonders, wenn man ganz nah vor das Bild tritt, wird klar, wie die Bildmittel von einer modernen Rezeptionsästhetik abgeleitet wurden. Gleichzeitig stürzen die unterschiedlichsten Bilder auf einen ein. Es gibt keine klar definierte Leserichtung, und das Schwarzweiß unterstützt die Nähe zu Film und Fernsehen oder auch zu den Massenmedien (Zeitung).

„So gesehen sind die Combines z.T. Reflexe auf den amerikanischen Alltag der 50er Jahre, die bestimmt waren vom Bewusstsein industrieller Vorherrschaft und militärischer Macht, aber auch von atomarer Bedrohung, Rüstungswettlauf und einer Politik äußersten Risikos, von Hysterie, demagogischer Meinungskontrolle, Stigmatisierung der Intellektuellen, von Syndromen des Kalten Krieges, der Kommunistenjagd unter McCarthy usw. (…) Für die Bewusstseinsbildung war dabei die Tatsache, in einer von Sozialdarwinismus dirigierten Überflussgesellschaft zu leben, möglicherweise weniger relevant als die Folgen einer explosionsartig zunehmenden Reizüberflutung durch die Medien, wobei dem Fernsehen zweifellos entscheidendes Gewicht zufiel“ (Zweite 1994: 87). Und in der Tat hat man bei der Betrachtung von „Barge“ das Gefühl, als würde man durch die verschiedene Kanäle zappen und schlichtartig einzelnen Aspekte der Realität aufblitzen sehen.

„Ein Bild soll nicht nach etwas aussehen, was es nicht ist, sondern nach etwas, was es ist. Und ich glaube, ein Bild gleicht der realen Welt mehr, wenn es aus dieser realen Welt gemacht ist“ (Tomkins 1981: 87). Zu dieser Aussage Rauschbergs lässt sich das ergänzen, was Jack Kerouac in seiner Anleitung für die moderne Prosa gefordert hat:

Wie schreibe ich moderne Prosa?
Ein Glaubensbekenntnis und ein technischer Ratgeber
Liste der unentbehrlichen Hilfsmittel
1. Geheime Notizbücher und lose Manuskriptseiten, die du zu deinem eigenen Vergnügen vollgekritzelt beziehungsweise wild vollgetippt hast.
2. Gib dich jedem Eindruck hin! Öffne dich! Lausche!
3. Versuche, dich nie außerhalb deiner eigenen vier Wände zu betrinken!
4. Sei in dein Leben verliebt.
5. Etwas, was du fühlst, wird die ihm eigene Form finden.
6. Sei immer blödsinnig geistesabwesend.
7. Schlage so tief, wie du schlagen willst!
8. Wenn du etwas Unergründliches schreiben willst, hole es aus dem Grund deiner Seele empor!<
9. Die unaussprechliche Vision des Individuums.
10. Keine Zeit für Lyrik, aber genau Bescheid wissen.
11. Visionäre Krämpfe durchzucken die Brust.
12. Auge haftet in träumerischer Entrücktheit am vor dir befindlichen Objekt.
13. Beseitige literarische, grammatische und syntaktische Hindernisse!
14. Mach es wie Proust: Geh mit dem Schatz deiner Erfahrungen und Erinnerungen hausieren!
15. Erzähle die wahre Geschichte der Welt im inneren Monolog!
16. Im Zentrum des Interesses leuchtet juwelengleich das Auge innerhalb des Auges.
17. Schreibe aus der Erinnerung und sei erstaunt über die Ergebnisse.
18. Geh immer vom Kern der Sache aus, schwimm im Meer der Sprache.
19. Finde dich mit Verlusten ab, und zwar für immer!
20. Glaube dran, dass die Konturen des Lesens heilig sind.
21. Es gilt, die Flut, die in deinem Innern bereits unversehrt existiert, aufzuzeichnen! Ringe darum!
22. Denke nicht gleich an Wort, wenn du dich nur unterbrichst, um das Bild besser sehen zu können!
23. Bleibe jedem Tag auf der Spur. Sein Datum schmücke deinen Morgen wie ein Wappenschild.
24. Empfinde weder Angst noch Scham, wenn es um die Würde deiner Erfahrungen, deiner Sprache und deines Wissens geht.
25. Schreibe, was die Welt lesen soll und worin sie genau das Bild sehen soll, das du dir von ihr machst.
26. Das Buch in Drehbuchform ist der Film in Worten, eindeutig die amerikanische Form.
27. Sei des Lobes voll, wenn du in der frostig kalten, und menschlichen Einsamkeit einen Charakter findest.
28. Komponiere wild, undiszipliniert, rein! Schreibe, was aus den Tiefen deines Inneren aufsteigt! Je verrückter, desto besser!
29. Du bist allzeit ein Genie!
30. Autor und Regissseur irdischer Filme, vom Himmel finanziert und heilig gesprochen.
(Kerouac in Loidl et al. 1992)

Doch nicht nur auf der inhaltlichen Ebene lassen sich die Übereinstimmungen von Literatur und bildender Kunst nachvollziehen. Auch die angewandten Techniken sowohl des Schreibens als auch des Malens zeigen diese Kongruenzen. „Gib dich jedem Eindruck hin! Öffne dich! Lausch!“ – „Visionäre Krämpfe durchzucken die Brust!“ – „Beseitige literarische, grammatische und syntaktische Hindernisse“ sind die Anweisungen Kerouacs, die bei Rauschenberg in eine Collage der Motive aus der realen Welt verwandelt werden. Auf der Grundlage der surrealistischen Verfahren von automatischem Schreiben kombiniert der Künstler die disparaten Teile zu einem Bild, das mehrere Bilder gleichzeitig erzeugen kann. Als „Poesie unbegrenzter Möglichkeiten“ bezeichnete John Cage die Arbeiten Rauschenbergs. Leo Steinberg äußerte sich in einem Buch zur Bewertung der Kunst des 20. Jahrhunderts über die Kunst Rauschenbergs besonders treffend:

„Müllkippe, Reservoir, Schaltzentrum, überquellend von wie in einem inneren Monolog frei assoziierten konkreten Referenzen -, das äußerste Symbol für den Geist, der laufend die äußere Welt transformiert, der fortwähnend einlaufende, unbearbeitete Daten aufnimmt, welche in ein überladenes Feld eingeordnet werden müssen“ (Steinberg 1972: 34).

Nicht als eine fortlaufende Geschichte präsentieren sich hier die Wirklichkeitselemente, sondern es blitzen Einzelbilder auf und der Betrachter kann die Verbindungen herstellen. „Wovor fürchtest du dich am meisten? Und ich antwortete: Dass mir die Welt ausgehen könnte“ (Rauschenberg in Behn 1998:4). Diese Aussage Rauschenbergs zeigt deutlich seine Intention, Kunst und Leben miteinander zu verbinden.
Vor allem die Perspektiven des urbanen Lebens in der modernen amerikanischen Gesellschaft verdichtet er in seinen Werken. „Ich nutzte alles aus, was der Tag dort brachte, um es in meinen Werken zu verwenden. Manchmal schämt ich mich sogar, denn es schien mir, als ob ich von New York lebte, wie von einem unbezahlten Dienstmädchen“ (ebd. S. 101). In der Art der Assemblagen eines Kurt Schwitters geht Rauschenberg im „combine painting“ „Allegory“ aus dem Jahre 1959/60 mit dem Material aus dem urbanen Milieu zu Werke.

Die dreiteilige Arbeit kombiniert gestische Malerei an der linken Ecke, auf die Teile einer roten Schirmbespannung appliziert wurden, mit Plakatfetzen, Stoffresten auf der rechten Seite und einem Mittelteil, wo auf einem Spiegel ein deformiertes Stück Blech befestigt ist. die Funktion eines Sinnbildes (Allegorie) des Großstadtlebens lässt sich über die Material-Assoziationen nachvollziehen. Für eine ganze Generation als Sinnbild von Urbanität mit dem zentralen Motiv „Mythos Automobil“ gilt der Roman von Jack Kerouac „On the Road“, in dessen Anfangssequenz eine Passage zu finden ist, die schlaglichtartig viele Aspekte von Großstadt in sich vereint: Der tägliche Kampf um das Geldverdienen, die Schnelllebigkeit und Hektik der Großstädter, die hier in einem immer schneller werdenden Stakkato der Begriffe gipfelt und die Assoziation von Blecht, Straßen, Bewegung etc. auslöst.

Dean war schon aufgebrochen. Carlo und ich hatten ihn zur Greyhound Station an der 34th Street begleitet. Oben gab es da einen Kasten, wo man Fotos für einen Vierteldollar machen konnte. ´Carlo nahm seine Brille ab und machte ein finsteres Gesicht. Dean schoss eine Profilaufnahme und blickte sich schüchtern um. Ich machte ein en-face-Bild, auf dem ich aussah wie ein dreißigjähriger Italiener, der jeden umbringen würde, der ein Wort gegen seine Mutter sagt. Dieses Foto schnitten Dean und Carlo säuberlich mit einer Rasierklinge in der Mitte durch, und jeder verstaute seine Hälfte in seiner Brieftasche. Dean hatte sich für die große Heimfahrt nach Denver in einen echten Geschäftsanzug geworfen, wie er an der Westküste üblich ist; er hatte seinen ersten Auftritt in New York hinter sich. Ich sage Auftritt, aber hatte bloß wie eine Hund auf Parkplätzen geschuftet. Er war der phantastischste Parkplatzwächter der Welt, er konnte ein Auto in vierzig Sachen rückwärts in eine enge Lücke quetschen, in den nächsten Wagen springen, mit fünfzig Meilen in der Stunde auf einem kleinen Fleck wenden, schnell rückwärts rein in eine Parklücke, rrrums, die Handbremse reinknallen, dass man den Wagen hochschnellen sieht, während er raushechtet; dann schnell zur Kassenbude, im Sprint wie ein Hundertmeterläufer, den Parkschein aushändigen, in einen gerade angekommenen Wagen springen, bevor der Besitzer halb draußen ist, buchstäblich unter ihm durchtauschen, während er aussteigt, den Wagen mit klappernden Türen starten und losdonnern zum nächsten freien Platz, wenden, reinstoßen, bremsen, rausspringen, rennen; und die se Schufterei achts Stunden lang, ohne Pause, jeden Abend, in der tätlichen Rushhour und einer der Rushhour nach dem Theater, in speckigen Pennerhosen, einer zerschlissenen, pelzgefütterten Jacke und mit klatschenden kaputten Schuhen. Jetzt hatte er sich für die Fahrt nach Hause einen neuen Anzug gekauft; blau, Nadelstreifen mit Weste und allem Drum und Dran – für elf Dollars an der Third Avenue, dazu eine Uhr mit Uhrenkette und eine Reiseschreibmaschine, auf der er in einem möblierten Zimmer in Denver anfangen wollte zu schreiben, sobald er dort einen Job gefunden hatte. Unser Abschiedsessen bestand aus Frankfurtern mit Bohnen in einem Biker’s in der Seventh Avenue, und dann stieg Dean in den Bus, an dem Chicago stand, und brauste los in die Nacht (…). Und das war eigentlich der Anfang von meinen Erfahrungen unterwegs, und die Dinge, die kommen sollten, sind zu phantastisch um sie hier nicht zu erzählen. (Kerouac, 1998: 13 f).

Ein weiteres Zitat aus dem Roman „On the Road“ schließt den Bogen der weiten Reise und soll hier in Gegenüberstellung mit dem Bild „Estate“ aus dem Jahre 1963 noch einmal das Thema „Urbanität“ aufgreifen.

Plötzlich fand ich mich auf dem Times Square wieder. Ich war achttausend Meilen auf dem amerikanischen Kontinent herumgefahren, und jetzt war ich wieder mitten auf dem Times Square, und sogar mitten in der Rush-hour, um mit meinen unschuldigen Tramperaugen den völligen Wahnsinn und das phantastische Chaos von New York zu sehen, mit seinen Millionen und Abermillionen Menschen, die auf der ewigen Jagd nach dem Dollar hin und her hetzen, der irre Traum – Raffen, Nehmen, Geben, Stöhne n, Sterben, nur um sich eines Tages in diesen schaurigen Friedhofstädten hinter Long Island City begraben zu lassen. die hohen Türme des Landes – das andere Ende des Landes, wo Zeitungs-Amerika geboren wurde. (ebd. _S. 131)

Das Siebdruckverfahren liefert auch im Falle von „Estate“ die Möglichkeit, Wirklichkeitszitate zu kombinieren. Die Fotos von Straßenschildern, Hausfassaden usw., die die Grundlage für die Erstellung der Siebe bildeten, sind von Rauschenberg größtenteils aus seinem Atelierfenster aufgenommen worden. Rauschenberg, der sich seit seinen Studientagen im Black Mountain College mit Fotografie beschäftigte, war dazu übergegangen, eigene Fotos statt der Ausbeute aus Zeitungen und anderen Massenmedien zu verwenden. Dies umso mehr, als ihm eine Copyright-Prozesse drohten.
Anhand der oben beschriebenen vier Gegenüberstellungen von Text und Kunstwerk lassen sich parallele Strukturen in Literatur und Bildender Kunst der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre aufzeigten, Auch wenn diese nicht bis in das letzte Detail inhaltlich deckungsgleiche Ansätze bieten, so schlägt doch das gemeinsam Lebensgefühl die Brück. Die Besondere Ästhetik, die sowohl in der Literatur wie auch in der Kunst dieser Zeit durchschlägt, entsteht in erster Linie aus dem Bedürfnis, Kunst und Leben miteinander zu verbinden, etwas zu schaffen, was entlang der Wirklichkeitserfahrung entstanden ist und nicht im intellektuellen Elfenbeinturm.

„Zentral für den weltanschaulichen Grundton der Beats war ein Modell der Ununterscheidbarkeit von Leben und Kunst, also die Idee der radikalen Authentizität (…)“ (Watson 1995: V)

„Ich will, dass meine Bilder das Leben widerspiegeln, und das Leben kann nicht aufgehalten werden“. (Rauschenberg in Behn 1998: 7).

Mit diesem Zitat mag nochmals eine Klammer um die Kunst und Literatur jener Jahre gelegt werden, deren spezielle Wirkung auch die Generationen nachfolgender Literaten und Künstler nachhaltig beeinflussen sollte.

Literatur

Kerouac, Jack: „Wie schreibe ich moderne Prosa?“ In: Loidl, Hintze, I, Gindl, W. (Hrsg.) (1992): Die Jack Kerouac School Of Disembodied Poetics. Interviews, Porträts, Texte, Gespräche. Klagenfurt/Wien
Kerouac, Jack in: Chartres. Portable Beat Reader, S. XXXIV. In: Watson, Steve (1995).
Kerouac, Jack (1998): Unterwegs. Hamburg.
Neven DuMont, Gislea/Dickhoff, Wilfried (Hrsg.) (1998): Kunst heute. Gespräche mit zeitgenössischen Künstlern. Nr. 3, Robert Rauschenberg. Köln
Rauschenberg, Robert in: Behn, H. (1998): Robert Rauschenberg Retrospektive. Ausstellungsbegleiter. Köln
Steinberg, Leo (1972): Other Criteria: Confrontations with Twentieth-Century Art, New York.
Tomkins, C. (1981): Off the Wall. Robert Rauschenberg and the Art World of Our Time, New York.
Watson, Steve (1995): Die Beat Generation. Visionäre, Rebellen und Hipsters, 1944-1960. New York.
Zweite, Armin (Hrsg.) (1994): Robert Rauschenberg. Ausstellungs-Katalog Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Köln

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3 Antworten zu “Robert Rauschenberg und die Beat Generation”

  1. Ein toller Text! Besonders die Bezüge zu Jack Kerouac fand ich sehr spannend. So im Alter von ca. 18 Jahren war Kerouac für mich Pflichtlektüre, natürlich „On the Road“ („Unterwegs“), aber auch das sehr abgefahrene „Gammler, Zen und hohe Berge“ (Originaltitel: „The Dharma Bums“).

  2. On the Road

    Heute vor 50 Jahren erschien der legendäre Roman der Beat-Generation, mit dem Jack Kerouac die Kulturszene der 50er und 60er Jahre nachhaltig beeinflusst hat. Er schrieb das Werk damals auf einer Endlosrolle Papier und die wird heutzutage quasi als Re…

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