Modigliani in der Tate Modern


Letzte Woche war ich in London und habe mir die Modigliani-Ausstellung in der Tate Modern angeschaut. Wie der Zufall es wollte, hatte ich die Chance aus mehreren Perspektiven auf das Werk dieses Künstlers zu blicken, den ich immer sehr gerne mochte. Bei dem ich aber letzten Endes nicht in bedingungslose Begeisterung verfallen kann. Die Ausstellung hat mir jedoch auch die Chance gegeben, diesen Künstler neu zu sehen. Und auch wenn ich noch immer keine großer Fan wurde, so ist er mir jetzt sehr viel näher. Was die Originale mir sagten, wie ich die VR-Nachbildung von Modiglianis Atelier empfunden habe und was ich von Olivia Elkaims Roman „Modigliani, mon amour“ halte, lest ihr hier.

Ich fange mal mit dem letzten Raum der Ausstellung an, der thematisch mit „An Intimate Circle“ überschrieben ist. Hier finden sich mehrere Porträts von Jeanne Hébuterne, seiner Lebensgefährtin, der Mutter seiner Tochter.  Als sie sich kennenlernten war sie 18 und studierte Kunst an der Academie Colarossi. Modigliani stellt sie ganz unterschiedlich dar. Einmal als naives Mädchen mit braver Ausstrahlung. Fast wie ein Kind. Dann wieder als selbstbewusst posierende Geliebte. Und weil ich um die Tragik ihrer Lebensgeschichte weiß, konnte ich diese Bilder nicht mehr ganz unvoreingenommen genießen. Ich schaue in die leeren blauen Augen von Jeanne. Das Porträt aus New York hängt hier als Zeugnis des engsten Vertrautenkreises des Künstlers. Warum malt er nur diese leeren Augen, denke ich. Auf mich wirkt das abschreckend, schockierend. So, als seien die Personen dem Tode geweiht. Nun ja, es ist eine Art Markenzeichen des Künstlers, das er auch bei anderen Porträts verwendet.

Die Kunstgeschichte hat keine eindeutige Erklärung für diese Augen. Manche meinen, es sei eine Anlehnung an die leeren Augen von Statuen, denn Modigliani suchte sein ästhetisches Ideal in den archaischen Bildnissen außereuropäischer Kulturen. Die Anmutung der Karyatiden gefiel ihm. Wie sie bewegungslos mit erhobenen Armen architektonische Versatzstücke von Tempelanlagen stützten. Eigene bildhauerische Arbeiten zeigen, wie sehr er sich damit auseinandersetzt. Auch sie sind in der Ausstellung zu sehen.

Möglich auch, dass diese Art, die Augen zu malen, eine Vergeistigung, einen inneren Zustand verdeutlichen sollen. Ein Zitat Modiglianis bestärkt mich darin: „Du schaust auf die Welt mit einem und in dich hinein mit dem anderen Auge.“ Mich machen diese leeren Augen aber traurig. Ich bin ganz erleichtert, als ich in der Ausstellung lebendigere Bilder von Jeanne entdecke.

Jeanne Hébuterne 1919 Medium Oil paint on canvas 914 x 730 mm The Metropolitan Museum of Art, New York

Als erstes begegnet man in der Ausstellung übrigens in Raum 1 einem Selbstporträt des Künstlers, der sich als Harlekin malt. Es ist auf das Jahr 1915 datiert. Der traurige Clown – ein durchaus typische Metapher für die jungen Künstler der Avantgarde. Und man sieht, welches emotionale Paket Amedeo Modigliani zu schleppen hatte. Der 1884 in einer jüdischen Familie in Livorno geborene Künstler erkrankte früh an Tuberkulose, an der er letztendlich auch 1920 gestorben ist. Dazwischen liegen die 14 Pariser Jahre, in denen er zu einem ganz besonderen Vertreter der Moderne wurde, einem Fixstern in den Künstlerkreisen.

Selbstporträt als Pierrot. 1915 Oil paint on cardboard 430 x 270 mm Statens Museum for Kunst, Copenhagen

Modigliani, mon amour – ein neuer Roman von Olivia Elkaim

Auf der Fahrt nach London habe ich den gerade frisch auf Deutsch erschienenen Roman von Olivia Elkaim verschlungen, der die Beziehung zwischen ihr und dem 14 Jahre älteren Modigliani beschreibt. Dort wird eindringlich der Konflikt Hébuternes beschrieben, die einerseits aus dem bürgerlichen Elternhaus ausbrechen wollte, um Malerin zu werden. Andererseits aber einem Mann verfallen war, der sie nicht nur ständig betrogen hat, sondern trotz schlechter Gesundheit soff und Drogen nahm. Die Autorin hat das in ihrem Buch so gut geschrieben, dass man sich in das Leben am Montmartre versetzt fühlt, wo unter diesen prekären Umständen so große Kunst entstanden ist.

Bei der Ankunft in der Rue Michelet bietet sich mir ein spektakulärer Anblick. Ich treffe auf einen Harlekin, einen Napoleon, einen Vampir in seinem ausgepolsterten Sarge, eine Frau im Badeanzug, einen Stierkämpfer und einen Asiaten im Ballkleid. Ein splitternackter Mann trägt auf dem Rücken einen riesigen Käfig, in dem eine junge Frau im Nerzmantel wie ein Kanarienvogel zwitschert. (…) Man reicht mir eine Flasche mit süßlichem Likör. „Trink dieses süße Blut, Mädchen. Und vor allem, vögle! Vögle, was das Zeug hält. Zum Schlafen hast du alle Ewigkeit.“ Hinter der Truppe geht aufrecht Amedeo in seinem schwarzen Mantel, das Gesicht hinter einer afrikanischen Maske verborgen, und deklamiert: „Ich bin der Finstere, der Witwer, der Untröstliche, der aus der Verdammnis wieder auferstandene Fürst.“

Aus der Perspektive einer jungen Frau blickt man noch einmal ganz anders auf die Künstler-Gemeinschaft um den Montmartre. In der Ausstellung sehe ich sie alle wieder. Picasso, Juan Gris, Jean Cocteau. Und natürlich sehe ich die berühmten Akte mit einem ganz anderen Blick, nachdem ich das Innenleben von Jeanne kennenlernen durfte. Olivia Elkaim schafft es, in ihrem Roman die Balance herzustellen zwischen einer anrührenden Liebesgeschichte und dem Blick in die Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ihre Schilderungen ziehen einen magisch hinein in das Paris jener Jahre und ich habe wirklich das Gefühl, dort zu sein und alles mitzuerleben. Das ist umso erstaunlicher, wenn ich es mit der VR vergleiche, die in der Ausstellung gezeigt wird und über die ich gleich noch mehr erzähle.

Ausstellungsrundgang

Die Ausstellung ist insgesamt eine beeindruckende Schau. Unglaublich, wie viel Modigliani während seines doch recht kurzen Lebens gemalt hat. Und in London trübt wohl auch kein Zweifel über die Echtheit der Gemälde die Freude. Über insgesamt 11 Räume verteilt, breiten sich seine Arbeiten aus. Dicht gehängt. An diesem Sonntag, an dem ich in der Tate war, schoben sich die Massen da durch und es war ein bisschen schwierig, einzelne Bilder in Ruhe zu betrachten. Deswegen war ich auch nicht böse, dass es ein generelles Fotoverbot gab. Was mich aber sehr beeindruckt hat: es gab mehrere, meist jüngere Besucher, die zeichneten. Und eine junge Frau saß im Raum mit den Skulpturen auf dem Boden und schien in einer Art stillem Zwiegespräch mit einem der Köpfe versunken. Hin und wieder zeichnete sie mit dem Finger Linien in der Luft nach. Das war sehr schön zu beobachten. In diesem kurzen Video bekommt man einen guten Eindruck von der Ausstellung.

Virtual Reality zur Modigliani Ausstellung in der Tate Modern

„Sie sind dabei, eine Rekonstruktion von Amedeo Modiglianis letztem Studio in Paris zu betreten.“ So empfängt einen der Erzähler, wenn man sich auf einem der insgesamt 10 Plätze für die Virtual Reality Erfahrung in der Tate niedergelassen hat und die schwere Brille aufgesetzt hat. „Das ockerfarbene Atelier“ haben sie diese Anwendung getauft, die von den Wissenschaftlern der Tate mit den Entwicklern von Vive gebaut wurde. In insgesamt drei verschiedenen Szenen schaut man sich im letzten Studio des Künstlers um, das dieser am Montparnasse mit Jeanne Hébuterne bewohnt hat. Von diesem existierten übrigens keinerlei Fotos und so war man ganz auf zeitgenössische Berichte und kunstwissenschaftliche Forschung angewiesen.

Mein Gott ist das eng und winzig hier, dachte ich im ersten Augenblick. Und dann war ich ganz fasziniert von den im Sonnenlicht tanzenden Staubkörnchen. Später, als es zu regnen anfing, lauschte ich dem Geräusch der Tropfen auf dem Bleidach. In einer Szene sitze ich neben einem kleinen Tischchen, auf dem noch der Rauch von Modiglianis Zigarette aufgesteigt. Gerade eben muss er noch dagewesen sein! Wenig später starre ich entsetzt auf die zahlreichen Sardinenbüchsen, die auf dem Boden verstreut liegen. Meine Güte, was für ein Leben.

Eigentlich möchte ich mich ein bisschen bewegen. Das geht aber nicht, denn ich bin fest getackert auf dem Stuhl. Höchstens ein Blick auf die Wand ist erlaubt. An der hängen ein paar Zeichnungen. Auf dem Tischchen liegt die Palette von Modigliani. Da rührt wohl auch die Bezeichnung „Das ockerfarbene Atelier“ her – genau weiß ich das nicht. Verraten wird es nirgendwo. Ich habe ein bisschen herumgesurft und herausgefunden, dass in diesem Atelier in der Rue de la Grande-Chaumière auch schon Gauguin gearbeitet hatte. Das verrät die Plakette am Haus, wie man schön bei Google Street View sehen kann.

Aber weiter mit der VR in der Tate. Wenn ich möchte, kann ich kleine Kreise mit den Augen fixieren und dann öffnet sich ein Audio-Stück mit einem Zitat von Modiglianis Zeitgenossen. So informiert mich Paulette, eines seiner Modelle darüber, dass der Künstler seine Zeichnungen gerne an Fleischerhaken an die Wand pinnte, die er von einem Metzger in der Nähe mitgebracht hatte.

Es dauerte mehr als fünf Monate, um das Atelier, seine Innenräume, Objekte und die gezeigten Kunstwerke akribisch zu rekonstruieren. Die Erfahrung wurde von mehreren Teams bei der Tate umgesetzt. Dies beinhaltete einen Forschungsaufenthalt im Pariser Studio sowie die Zusammenarbeit mit Künstlern, Designern, Entwicklern und Produzenten. Ich hatte ja schon mal den Trailer zu der VR in meinem Blogbeitrag über die Tagung im Max Ernst Museum verlinkt. Da wird beschrieben, mit welchem Aufwand die Farbtuben und Sardinendosen im Hinblick auf historische Genauigkeit rekonstruiert wurden. Ich muss gestehen, dass ich das nicht wirklich wertschätzen konnte, diese historische Akribie.

Unterschiedliche Realitäten in der Wahrnehmung von VR

Mein Fazit: Ich war ein wenig enttäuscht. Und hatte eher das Gefühl in einem Stillleben zu sitzen. Und nachdem man sich einmal nach links, einmal nach rechts umgeblickt hat, konnte man auch nicht so viel mehr mitnehmen. Die Audio-Files mit weiterführenden Informationen hätte man mir auch gerne anders servieren können. Mir fehlte ein bisschen das Storytelling. Klar, ich konnte mir zusammenreimen, dass hier jemand wohnt, dem es nicht so gut geht. Ein Künstler, davon erzählt mir die abgedeckte Leinwand auf der Staffelei, weitere herumstehende Leinwände und Zeichnungen an den Wänden.

Aber mich kriegt man eher mit solchen Geschichten wie der, dass auch Gauguin hier malte. Oder dass sich die arme Jeanne hier mit dem Maler herumquälen musste. Auch die Auftritte der Akteure aus der Pariser Bohemien-Szene vermisste ich. Es blieb letzten Endes – trotz aller VR – eindimensional. Und war innerhalb meiner Beschäftigung mit Modigliani nur ein Baustein. Der allerdings wunderbar atmosphärisch in das Puzzle aus Roman und Ausstellung hineinpasste.

Mein Mann allerdings, der sich in technischen Zusammenhängen bedeutend besser auskennt als in kunsthistorischen, war doch sehr begeistert. Erstmal klärte er mich darüber auf, was für ein unvorstellbarer Aufwand die Programmierung von Bewegung in der VR ist. Und er habe das ockerfarbene Atelier sehr genossen. Weil er auf diese Weise nachvollziehen könne, unter welch prekären Lebensumständen damals die Künstler gelebt haben. Das sei ihm so nicht klar gewesen. Hier merkte ich, dass es eben auch in der Wahrnehmung von VR unterschiedliche Realitäten gibt.

Während ich an diesem Blogbeitrag schreibe, hat Tanja Praske gerade einen interessanten Artikel über VR und mehr verfasst, der einen guten Überblick über die Möglichkeiten solcher Anwendungen im Kulturbereich gibt. Auch Axel Kopp schrieb unlängst zu dem Thema einen lesenswerten Blogbeitrag (in welchem er das Modigliani-Projekt lobend erwähnt hat). Und auch auf Musermeku hat Angelika Schoder anläßlich der Ausstellung im Zeppelinmuseum ausführlich zum Thema Virtual Reality im Museum gebloggt. Und es gibt noch weitere erwähnenswerte Beiträge, die sich ausführlich mit dem Thema beschäftigen und jede Menge Best Practice zusammenstellen.

Ich will mich auch in Zukunft weiter damit auseinandersetzen und gerne auch mehr darüber berichten. Mit Anne Aschenbrenner habe ich für die Furche (eine österreichische Wochenzeitung) unlängst ein Interview dazu auf Instagram gehabt. Sie hatte sich die VR Installation zu Klimts Stoclet-Fries angeschaut und wir haben unsere Erfahrungen ausgetauscht.

 

Beitragsbild: Modigliani in his studio, photograph by Paul Guillaume, c.1915 ©RMN-Grand Palais (musée de l’Orangerie) I Archives Alain Bouret, image Dominique Couto

Share

9 Antworten zu “Modigliani in der Tate Modern”

  1. Hallo Anke,
    danke für den interessanten Bericht über das VR-Erlebnis – und spannend, dass ihr es so unterschiedlich wahrgenommen habt. So ist es ja letztlich mit allen Dingen, mit den Kunstwerken selbst und mit Ausstellungserlebnissen überhaupt. Wenn es einem Teil der Menschen hilft, näher mit dem Künstler in Berührung zu kommen, warum nicht? Interessant finde ich, dass die Tate ein Atelier rekonstruiert hat, von dem es keine Bilder gibt! Das klingt nach einer wirklichen Herausforderung.
    Viele Grüße – und danke fürs Verlinken,
    Marlene

    • Liebe Marlene,

      ja, ich stelle auch immer wieder fest, dass ich schon sehr anders Ausstellungen betrachte, als jemand, der da nicht beruflich mit zu tun hat. Aber so bringt eben jeder seine eigene Realität mit ein.
      Das Atelier gibt es wohl immer noch – also physisch. Aber natürlich nicht so, wie es zu Modiglianis Zeiten ausgesehen hat. Man hat sehr viel zeitgenössische Beschreibungen genutzt. Und da er wohl wirklich eine besondere Figur unter den Bohemiens war, gibt es zahlreiche Menschen, die über ihn und seine Lebensumstände geschrieben haben. Zumal er ja so tragisch jung verstarb.

      Liebe Grüße
      Anke

      • Ach, physisch gibt es den Raum noch – das erleichtert die Rekonstruktion natürlich! In Altenburg gibt es das Haus von Gerhard Altenbourg. Das steht noch so, wie er es verlassen hat. Es ist klein und eng mit Millionen von Details und für großen Besucherverkehr nicht geeignet. Hier könnte VR eine echte Bereicherung sein. Der Gedanke stammt auch nicht von mir, die Überlegungen sind schon im Gange 🙂

        Liebe Grüße,
        Marlene

        • Ja, so, wie ich es verstanden habe, stehen die Mauern zumindest noch. Wenn das Atelier von G. Altenbourg noch so steht, wie er es verlassen hat, würde nicht auch ein Video gut funktionieren? Um eine aufwändige VR zu machen, muss man gucken, was noch als Mehrwert mitgeliefert würde.

          • Da hast du auch wieder recht zumal man sich ja auch nicht bewegen kann mit der VR-Brille. Oder so eine Google Arts 360° Aufnahme an einem Touchscreen.

Schreibe eine Antwort zu MarleneAntwort abbrechen