Metaphern des Stadtlebens


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Filmszene
Auf der gerade stattfindenden Berlinale wird die legendäre Verfilmung des Romans „Berlin Alexanderplatz“ in neuem Licht (fast wortwörtlich zu nehmen) gezeigt. Einmal mehr erinnert man sich an den Jahrhundertroman von Döblin, der wie kein anderer das Leben in der Großstadt Berlin aufgezeichnet hat und auch an die ebenfalls geniale Leistung von Fassbinder und seinem Gefolge. Die Menschen in der großen Stadt nach der Jahrhundertwende waren ganz neuen Lebensbedingungen unterworfen, nachdem die industrielle Revolution so richtig anfing zu greifen. Es kristallisierten sich spezifische Verhaltensweisen heraus, schräge Typen, hysterische Begegnungen und vor allem viel Leid nach dem Erlebnis des großen Krieges. Die Künstler saugten dieses neue Leben mit ihren sensiblen Antennen auf. In einer Zusammenfassung überblicken wir noch einmal die entscheidenden Aspekte einer spezifischen Großstadtkunst.


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Manet zeigt hier eine typische Pariser Szene. Vom Balkon aus wird der Boulevard unter Beobachtung genommen.
Die Darstellungen, die sich mit dem Themenkomplex der Großstadt auseinandersetzen, bilden ein eigenständiges Genre in der expressionistischen Kunst. Seine Motivik ist zwar im Zusammenhang der steigenden Bedeutung der Großstadt im 19. Jahrhundert von Impressionisten entwickelt, jedoch kaum anders als die Landschaftsmalerei behandelt wurde.
Von 1910 an und in Abhängigkeit von der zentralen Rolle Berlins als Metropole, entwickelte sich in Deutschland eine expressionistische Großstadtkunst, in deren Mittelpunkt weniger die formal inspirierte Stadtlandschaft oder die technische Kulisse einer modernen Umwelt stand. Das Interesse der Expressionisten galt in erster Linie der inhaltlichen Auseinandersetzung mit den verschiedenen Aspekten des Lebens in der Stadt. Hierbei spielte auch der persönliche Bezug der Künstler zum Stadtleben eine wesentliche Rolle. Die Großstadt bot die Möglichkeit zur Herausbildung eines unkonventionellen Milieus, das den neuen Ideen der Expressionisten zuträglicher war als die Provinz. Der von ihnen propagierte Bruch mit den traditionellen Werten sollte über die Kunst hinaus auch eine Veränderung des gesellschaftlichen Lebens bewirken. Von manchen Künstlern wurde diese Vorstellung einer Überwindung der bürgerlichen Normen auch in alternativen Lebensformen angestrebt, die in ihrer Weise nur in der Großstadt verwirklicht werden konnten. Aus diesem Zusammenhang erklärt sich auch die Affinität vieler Expressionisten zu gesellschaftlichen Randgruppen. Zirkusartisten, Varietékünstler und Prostituierte bildeten das soziale Umfeld, aus dem die expressionistische Großstadtkunst ihre Themen schöpfte. Die Gestaltung dieser Themen war wesentlich bestimmt durch das Eingebundensein des Künstlers in das Großstadtleben. Die Darstellungen sind der Ausdruck des unmittelbaren Empfindens der eigenen Umwelt, eine Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und die künstlerische Umsetzung der individuellen Biographie. In dieser Weise bilden sie einen Gegenpol zu der in der expressionistischen Naturdarstellung verarbeiteten Form von Utopie.Für die Expressionisten war die Beobachtung der Umwelt von ebenso großer Bedeutung wie für die Impressionisten. Dabei stand für jene jedoch nicht die genaue Wiedergabe der Einzeleindrücke im Vordergrund. Diese wurden vielmehr im Sinne der subjektiven Erfahrung zu einer Bildaussage verarbeitet. Mit diesem Ansatzpunkt entwickelten die Expressionisten ihre spezifische Großstadtikonographie.
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Kirchner, Strassenszene, 1913
Ein wichtiger Aspekt dieser Ikonographie ist das Bemühen um die Darstellung eines großstädtischen Menschtyps, welcher auszudrücken in der Lage wäre, dass der Großstädter „nicht einfach ein Jemand (sei), der auch auf dem Bauernhof wohnen könnte.“ (Döblin)
Kirchner hat in seinen Darstellungen den Menschen in formaler Korrespondenz zur Großstadt wiedergegeben. Er selbst interpretierte seinen Stil im Sinne von „Hieroglyphen“. Die überlängten heuschreckenartigen Wesen seiner Bilder reflektieren die durch Schnelligkeit, Nervosität und Spannung bestimmte Großstadtatmosphäre. Während Kirchner sich auf diese Weise intensiv mit der Gestalt auseinandersetzte, tendierte Meidner dazu, die Einzelfigur im dynamischen Ganzen aufzulösen und somit der Bewegung der Großstadt unterzuordnen.
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Grosz, Straßenbild, 1917
Einen ganz anderen Weg ging Grosz. Ihn beschäftigte weniger die formale Neufassung des Menschen als Ausdruck der Großstadt, obschon seine flüchtig skizzierten Figuren in ihrer karikaturistischen Prägnanz durchaus auf den Einfluss der Großstadt zurückgehen – besonders dort, wo eine Anleihe bei den Kritzeleien öffentlicher Pissoirs auffällig ist. In erster Linie spürte Grosz jedoch mit psychologischem Interesse denen einzelnen „Charakteren“ der Großstadt nach, die er dann in seinen Bildern zu den Symbolträgern des modernen Lebens erhob.. Diese Interpretation verbindet ihn auch mit Beckmann, dessen Großstadtkunst die allgemein-menschliche Situation anhand exemplarisch vorgestellter Typen reflektiert.
Bei einigen Künstlern steigert sich die Bemühung um ein Bild des Großstadtmenschen zu einer pessimistischen Sicht des Lebens in der Stadt. Der Mensch wird in seiner Entfremdung von der Umwelt empfunden und in einer Art „Unbehaustheit“ dargestellt, bei der die städtische Umgebung als Gegensatz zum menschlichen Sein aufgefasst wird. Allen expressionistischen Darstellungen des Großstadtmenschen gemein ist eine enge Verknüpfung mit der Stadtwelt. In ihr liegt – ob kontrastierend oder korrespondierend zur menschlichen Gestalt aufgefasst – ein wesentliches Moment der Großstadtikonographie. Ein Hauptmotiv in diesem Zusammenhang ist die Straße. In einer ganzen Serie von „Straßenbilder“ hat Kirchner sein Erlebnis der Großstadt zum Ausdruck gebracht. Der im Zentrum dieser Bilder stehende Mensch wird in erster Linie durch die Umgebung gestaltet. Die nächtliche Beleuchtung eines Schaufensters, ein vorbeirasendes Auto, die Enge des Trottoirs – all diese Einzelheiten wirken sich auf die Auffassung der menschlichten Gestalt nachhaltig aus. Bei anderen Künstlern wird die Straße zum Ort nächtlicher Bedrohung oder Schauplatz flüchtiger Begegnungen.
Nicht unbedingt ein Großstadtmotiv allein sind die Bordellszenen, deren Ikonographie auf die Tradition moralisierender Genreszenen in der niederländischen Malerei zurückgeht. In der Ikonographie der Großstadtkunst drücken die Bordellszenen die spezifische Art zwischenmenschlichter Beziehungen im Stadtleben aus. Gegenüber den Straßenszenen oder Bordellszenen hat die Darstellung des Kaffeehauses den Vorteil, dass sie nicht nur einen Aspekt des städtischen Lebens im Blick hat, sondern in ihr die Vielfalt der Großstadt repräsentiert werden kann. Das Kaffeehaus hängt in seiner Ausprägung eng mit den Gegebenheiten der Großstadt zusammen und entwickelt sich von daher zu einem spezifisch großstädtischen Element der Kunst.
Das wachsende Interesse der Expressionisten an diesem Sujet begründet sich vor allem durch die Bedeutung des Kaffeehauses als „geistige Heimat“ der künstlerischen Bewegung jener Jahre. Bei der Ausprägung des Kaffeehausmotivs als Ausdrucksträger spielt der objektiv schwer fassbare Begriff der Atmosphäre die wichtigste Rolle. Die technische Seite des modernen Stadtlebens ließ sich durch eine reine Architekturmalerei durchaus vermitteln; in der gehaltlichen Auseinandersetzung mit der Großstadt mussten jedoch Bilder für das, was das Stadtleben substantiell ausmachte, gefunden werden. Die Ikonographie des Kaffeehauses hatte sich seit den Impressionisten immer stärker von einem nur formal aufgefassten Bildmotiv zu einem Motiv der Vermittlung bestimmter Erlebniswerte entwickelt. Diese Eigenschaft prädestinierte die Darstellung des Kaffeehauses zum Ausdruck des subjektiv erfahrbaren Großstadtlebens. Kirchner hat in seinen Kaffeehausszenen die Intention seiner Straßenbilder besteigert und die Gesamtkomposition als Entsprechung zum erregten, nervösen Stadtleben entworfen. Die Darstellungen gehören zu dem Themenkreis der „okkularen Erlebnisse“, in den er sich durch eine ganze Reihe von Skizzen vor Ort motivisch eingestimmt hat. Kirchner schuf die Kaffeehausszenen als exemplarische Situation des Stadtlebens, in der die von ihm empfundene spezielle Atmosphäre der Großstadt formal in die Komposition aufgenommen wurde.
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Max Beckmann, Varieté, 1924
George Grosz wird in seinen Kaffeehausszenen zum Erzähler. Er verarbeitet eine Fülle akribisch beobachteter Einzelheiten zu „Geschichten“ des Stadtlebens, die sich im Kaffeehaus wie auf einer Bühne ereignen. Bei der Gestaltung der Szenen komm bei ihm noch stärker als bei den anderen Künstlern die Einbringung der eigenen Persönlichkeit in das Sujet zum Ausdruck. Diese ermöglicht ihm schließlich die symbolische Verdichtung des Kaffeehausmotivs als Darstellung der subjektiven Weltsicht. Aufgrund seiner herausragenden Stellung innerhalb der Großstadtkultur und mit einer spezifischen Atmosphäre, in der „ein ganzes Leben“ enthalten sein kann, vermittelt das Kaffeehausmotiv über das individuelle Erlebnis die Quintessenz des Stadtlebens. Mit der Einbindung des Motivs in die avantgardistische Kunstauffassung, in den individuellen Lebensstil und in den Zeitgeist einer Generation werden die Kaffeehausszenen zum authentischsten Phänomen der expressionistischen Großstadtkunst.
„Kaffeehausszenen“ in Kulturtussi.de:

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2 Antworten zu “Metaphern des Stadtlebens”

  1. Hier ein Blick auf New York aus Susan Sontags Erzählung „Debriefing“:
    „Diese Stadt ist weder ein Dschungel noch der Mond, noch das Grand Hotel. In der Totale: ein kosmischer Klex, ein Konglomerat blutender Energien. In Großaufnahme: ein einigermaßen lesbarer Stromkreis, ein elektrifiziertes Labyrinth mit tierischen Spuren, eine Datenbank mit asthmatischen Stimmproben. Wenige Bürger nur sind berechtigt, elektrisch verstärkt zu werden.“

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